Olga Neuwirth, Sie galten lange als Provokateurin. Besinnt man sich der lateinischen Herkunft des Worts „provocare“, heißt das nichts anderes als (etwas) hervorrufen. Welche Wirkungen haben Sie denn im Laufe Ihrer Karriere hervorgerufen?
Olga Neuwirth (ON): Ja, besonders, wenn man es als Frau seit jeher immer gewagt hat, sich frei zu äußern, bekommt man ein Mascherl umgehängt. Bei mir war es bald das der Provokateurin. Dabei interessiert mich das gar nicht, sondern mir geht es ja gerade um das „Hervorrufen“, um das Hinterfragen der von Menschen gesetzten Normen. Um das, was eigentlich jeder Mensch möchte: Von der Fremdbestimmtheit zur Freiheit, vom Ritual zur freien Wahl zu gelangen. Es geht mir um das Hervorrufen von Veränderungsbereitschaft und um das Vermögen, noch Visionen entwickeln zu können. Besonders in einer Welt, die mehr und mehr gleichschalten möchte – auch in der Kunst –, es zu wagen, anders zu denken, alte Gedanken weiterzuspinnen, wenn die Realität alt und mürrisch geworden ist. Wenn der Welt die Blätter abgefallen sind …
Was provoziert Sie selbst heute am meisten?
ON: Vorauseilender Gehorsam, sich der Norm anpassen zu wollen – in Kunst und Leben. Und Intoleranz, aber sich zu gerieren als sei man „eh so tolerant“. Dieser Zynismus ist für mich schwer zu ertragen.
Das Thema der Gender-Gerechtigkeit hat sich bis heute keineswegs erledigt. Sie gelten auch hinsichtlich der Gestaltung Ihrer Rolle als komponierende Frau als Pionierin. Junge Kolleginnen haben es heute zum Glück wohl etwas leichter, Akzeptanz zu finden. Was hat sich seit dem Anfang Ihrer Karriere geändert?
ON: Nein, dieses Thema hat sich keinesfalls erledigt, aber vieles hat sich für jüngere Komponistinnen verbessert. In meiner Studien- und Anfangszeit lebte ich quasi noch im Mittelalter, was den Umgang mit Komponistinnen betrifft, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Es war wirklich ein täglicher Kraftakt des „breaking glass“.
Welche Bedeutung hatte für Sie Ihr Studium an der mdw bei Erich Urbanner und am Elektroakustischen Institut?
ON: Darüber spreche ich lieber nicht. Ich kann nur sagen: Weil damals, nachdem ich vom Studium am San Francisco Conservatory of Music zurückgekommen war, mein Interesse an den wirklich aktuellen Entwicklungen in Österreich nicht gestillt werden konnte, bin ich während meines Studiums einmal pro Monat privat zu Adriana Hölszky nach Stuttgart gefahren. Bei ihr habe ich die Vielfalt an Kompositionstechniken und das Studium von Partituren mit einer unglaublichen Offenheit kennengelernt. Ohne Wertung.
Was würden Sie Studierenden an der mdw bzw. jungen Menschen, die heute komponieren oder Komposition studieren möchten, empfehlen?
ON: Sie sollen alles aufsaugen, was ihnen angeboten wird, neugierig und offen sein, damit sie zu sich und ihrem eigenen Ausdruck finden. Und sich ja nicht unterkriegen lassen, um zur Artikulation des Eigenen zu gelangen, sodass der Eigensinn immer mehr gefestigt wird.
Nach langem Kampf wurde Ihr von der Wiener Staatsoper in Auftrag gegebenes Werk Orlando im Dezember 2019 ein großer Erfolg. Welches Resümee ziehen Sie über diese Produktion?
ON: Ja, alle fünf Aufführungen (leider nur fünf bei so einem großen Aufwand für alle Mitwirkenden) waren ausverkauft und es gab ein erstaunliches internationales Echo. Aber das Resümee und alles Drumherum bestimmen ja nun die anderen: die Entscheidungsträger_innen in der Musikwelt, die Intendant_innen, der Verlag und die Festivalleiter_innen. Ich kann da gar nichts beeinflussen. Ich bin nur froh und dankbar, dass es zumindest zu einem großen Teil so über die Bühne gegangen ist, wie ich das Ganze – Musik und Bühne – über Jahre hinweg erdacht hatte. Aber eben auch deswegen, da ich einige sehr wichtige Mitstreiter_innen hatte wie Comme des Garçons, eine unterstützende Dramaturgin sowie tolle Sänger_innen und Schauspieler_innen, einen wunderbaren Dirigenten und wunderbare Tontechniker, mit denen ich seit Jahren zusammenarbeite.
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Zur Person
Olga Neuwirth, geboren 1968 in Graz, erhielt ab dem 7. Lebensjahr Trompetenunterricht. Aufgrund eines Unfalls musste sie dieses Instrument aufgeben. 1986 studierte sie in San Francisco am Conservatory of Music und am Academy of Art College Malerei und Film, anschließend an der mdw. Wichtige Anregungen erhielt sie durch die Begegnungen mit Adriana Hölszky, Tristan Murail und Luigi Nono. 1991 machten sie zwei Mini-Opern nach Texten von Elfriede Jelinek international bekannt. 1998 war sie bei der Reihe „Next Generation“ der Salzburger Festspiele zu Gast, 1999 wurde bei den Wiener Festwochen ihr erstes abendfüllendes Musiktheater Bählamms Fest nach Elfriede Jelinek uraufgeführt. Weitere wichtige Bühnenwerke sind u. a. Lost Highway nach dem gleichnamigen Film von David Lynch (2003), The Outcast nach Leben und Werk von Herman Melville und American Lulu (beide 2012) sowie ihr zuletzt an der Wiener Staatsoper 2019 uraufgeführter Orlando nach Virginia Woolf. Neuwirth erhielt zahlreiche nationale und internationale Preise, darunter den Großen Österreichischen Staatspreis (2010)