Ein Gespräch über künstlerische Forschung mit der südafrikanischen Filmemacherin Jyoti Mistry

Jyoti Mistry © Heinrich Voelkel

Wie sind Sie als Filmemacherin zum ersten Mal mit Artistic Research in Kontakt gekommen?

Jyoti Mistry (JM): Artistic Research stellt kanonisiertes Wissen infrage und impliziert, dass Forschung nie abgeschlossen sein kann, was politisch durchaus relevant ist. Künstlerische Forschung ist ihrem Potenzial nach für dekoloniale Wissenskonzepte strategisch notwendig. Denn man zeigt auf, wie Wissen durch Machtbeziehungen konstruiert wird. So können künstlerische Formen genutzt werden, um eine Kritik aus der künstlerischen Praxis heraus zu entwickeln. Künstlerische Forschung ist also eine wertvolle Methode, um Ideen auszuloten und die künstlerische Praxis „von innen“ weiterzuentwickeln. Mich interessiert, wie man Filmpraktiken außerhalb filmischer Konventionen und filmische Sprache durch Forschung erweitern und weiterentwickeln kann. Da ich aus einer Perspektive des globalen Südens heraus arbeite (ich komme aus Südafrika), fühlte ich mich zu alternativen epistemischen Strategien hingezogen, die zu den Grundthesen künstlerischer Forschung zählen.

In der Publikation Places to Play (2017)1 beschreibe ich die Zusammenhänge zwischen künstlerischer Forschung und dekolonialen Strategien. In beiden Feldern begünstigen Thesen und Methoden den epistemischen Ungehorsam, das Experimentieren sowie gegeninstitutionelle künstlerische Formen, die Wissen fördern, – was für mich als Künstlerin und Forscherin nach wie vor eine wichtige Haltung ist.

Die Ernennung der Artistic Research zur „Disziplin“ in manchen Institutionen ist durchaus problematisch, besonders kontraintuitiv erscheint das in Bezug auf das überaus wichtige konzeptuelle Ethos, das ihr anfangs eingeschrieben war. Es ist notwendig, künstlerische Forschung als disziplinübergreifenden Ansatz zu begreifen, der interdisziplinäre Forschung und Methoden fördert.

Wie kann das Filmemachen, so wie Sie es praktizieren, zur Schaffung neuer Formen der Wissensproduktion beitragen?

JM: Ich nutze gängigen Filmpraktiken vielmehr als Forschungsmethoden als wegen der einzigartigen Möglichkeiten, die Film als Storytelling-Medium bietet.

In der Geschichte des Kinos hat sich eine signifikante Anzahl an Filmemacher_innen mit der Materialität des Mediums auseinandergesetzt und damit, wie diese Materialität die Art und Weise bedingt, wie Ideen zum Ausdruck kommen. Sie experimentierten mit der Form als zentrales Element von Wissen. Ich denke, eine wichtige Verschiebung, die man zurzeit beobachten kann, liegt in der Reflexivität: Es wird offengelegt, wie Epistemologien von institutionellen Kontexten geformt wurden. In meiner Arbeit bin ich gerade zunehmend an Experimentellem interessiert und insbesondere auch daran, wie es unsere Sichtweise auf Gewalt oder Unterdrückung neu belebt. In diesem Fall hat Wissen in Bezug auf meine Filmpraxis weniger mit dem Erklären (oder Verstehen) zu tun und mehr mit dem Aufweisen der Grenzen unseres Nicht-Verstehens. Das ist an und für sich schon ein Gegenentwurf zur Gewissheit von Wissen, was ja ein wesentlicher Grundpfeiler westlicher Epistemologien ist.

Was bedeutet es für Sie mit Archivmaterial zu arbeiten?

JM: Wenn ich in einem Archiv auf Materialsuche gehe, stelle ich die Beziehungen zwischen „offizieller“ Geschichtsschreibung und den Geschichten, Erfahrungen und Erinnerungen, die von dem vorherrschenden Narrativ ausgeschlossen blieben, infrage und bewerte sie neu. Daher kann das Material im Archiv eine Verschiebung erfahren: Das ursprünglich als informativ konzipierte Material (Filme als Dokumente) kann nun – je nachdem, welche Betrachtungsperspektive hier eingenommen wird (zum Beispiel aus der Position der Kolonisierten, der Unterdrückten, der Frauen oder der Menschen am Rande der Gesellschaft) – völlig neue Bedeutungen erhalten. So gesehen ist die Arbeit mit archivarischem Filmmaterial ein politisch notwendiger Akt zur Wiederaneignung bestimmter Bilder und Positionen, die ansonsten unsichtbar blieben. Man kann so auch aufzeigen, was im vorherrschenden Narrativ verschwiegen wurde und das Material im Schnitt so anordnen, dass dadurch die Bedeutung bestimmter Erfahrungen hervorgehoben wird.

Wie setzen Sie Archivmaterial ein und wie viel Recherche ist für die Nutzung von historischem Filmmaterial im Rahmen moderner Filmtechnik(en) notwendig?

JM: In der Recherche ist die archivarische Herkunft des Materials durchaus relevant; man arbeitet also mit Archivkatalogen, Metadaten und Indices. Diese Elemente sind wichtig, denn sie liefern den nötigen Kontext für die historischen und soziopolitischen Bezüge im Material. Vieles wurde nicht digitalisiert, daher braucht man viel Geduld: Man muss das Material z. B. am Schneidetisch sichten oder mit Archivar_innen zusammenarbeiten, um bestimmte Bilder überhaupt finden zu können.

Es ist interessant, dass Celluloid nach wie vor ein äußerst resilientes Material ist, das es uns ermöglicht, Bildmaterial zu manipulieren und dabei einen organischeren und weicheren Look beizubehalten – vor allem im Vergleich zu den harten, scharf gestochenen digitalen Bilder. Gerade wegen seiner Unvollkommenheit ist Celluloid so resilient.

Sehen Sie Ihren Ansatz, Filmemachen und künstlerische Forschung zu vereinen, auch als eine Form politischen Aktivismus?

JM: Mich interessiert das Ethos künstlerischer Forschung als politische und ästhetische Vision. Aber ich bin etwas zögerlich, meine Arbeit als politischen Aktivismus zu definieren. Die Politik der Wissensproduktion und künstlerischer Forschung als eine Form epistemischen Ungehorsams sind für mich als Praktikerin und Forscherin ein produktiverer Ansatz. Betrachtet man Aktivismus als transformative Geste oder Tätigkeit, die sich dem Status quo widersetzt, dann kann man Artistic Research in ihrer Verankerung an (Bildungs)institutionen als aktivistische Form der Bekämpfung erstarrter Forschungsstrukturen sehen (obwohl sich das gerade auch rasant ändert). Lassen Sie mich das vielleicht noch etwas weiter ausführen: Ihre Frage nach dem Aktivismus zielt auf die Art ab, wo und wie künstlerische Forschung an Institutionen verankert ist und auf die politischen Spannungen, die zu den Debatten über die Validierung von „Kunst als Forschung“ führten, sowie ihre Beziehung mit den breiteren Fördermechanismen innerhalb höherer Bildungsinstitutionen. Mich interessieren jene politischen Aspekte künstlerischer Forschung, die sich damit befassen, wie man für jene ästhetischen Formen und epistemischen Ansätze Raum schaffen kann, die sich kultureller und geo-historischer Referenzen bedienen, die ansonsten verdrängt oder verbannt werden. Zum Beispiel: Wie können wir Marginalitätserfahrungen sichtbar machen und inklusiv gestalten? Wie können wir Theorien aus dem globalen Süden oder Wissensmodelle, die nicht westlich geprägt sind, würdigen? Und wie können wir diskursive Praktiken entwickeln?

In Ihrem jüngsten Film Cause of Death befassen Sie sich mit der Verletzlichkeit der Frauen und insbesondere kolonisierter Frauen – sehen Sie sich als feministische Filmemacherin?

JM: Cause of Death arbeitet mit den inhärenten Gegensätzen der Erfahrungen von Frauen und ihrer Rolle in soziopolitischen und wirtschaftlichen Strukturen – die Dichotomie zugleich verehrt und beschimpft zu werden ist immer präsent. Die kolonialen Teile des Archivmaterials haben zwei Dimensionen: Die Kolonie wird dokumentieren, um die wirtschaftliche Kolonialagenda voranzutreiben sowie das alltägliche Leben der Kolonialherren festzuhalten. Es gibt zudem auch viel ethnografisches Bildmaterial. Wenn ich hier den Begriff „ethnografisch“ benutze, meine ich damit all jene Bilder, die Kulturen, Völker und Praktiken (und in diesem konkreten Fall die Rolle der Frauen darin) über geografische Grenzen hinweg (Asien, Afrika, Europa) dokumentieren. Das hat auch dieses Projekt für mich so interessant gemacht – die sich trotz unterschiedlicher Kontexte herauskristallisierenden Muster. Diese wollte ich nutzen, um anhand gegenwärtiger Strukturen von Gewalt gegen Frauen eine Brücke in die Vergangenheit zu schlagen.

Ich reihe mich gerne in die starke (wenn auch nicht lange) Tradition feministischer Filmemacher_innen ein, die es sich zum Ziel setzen, Geschichten und Erfahrungen von Frauen sichtbar zu machen.

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