Vladimir Jankélévitch: Zauber, Improvisation, Virtuosität. Schriften zur Musik, aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann, herausgegeben von Andreas Vejvar, Suhrkamp Verlag, 2020
Das Denken des französischen Philosophen und Musikwissenschaftlers Vladimir Jankélévitch ist deutschsprachigen Leser_innen seit 2016 durch die beeindruckende Übersetzung seiner Abhandlung La Musique et l’Ineffable (1961) zugänglich. Mit der deutschen Fassung Die Musik und das Unaussprechliche erschlossen der versierte Übersetzer Ulrich Kunzmann und der Herausgeber Andreas Vejvar einen Meilenstein der französischen Musikphilosophie des 20. Jahrhunderts. Ein weiterer Band mit dem Titel Zauber, Improvisation, Virtuosität. Schriften zur Musik ist das Nachfolgeprojekt dazu. Kunzmann und Vejvar widmen sich mit dieser Veröffentlichung erklärtermaßen dem „Resonanzboden“ von Jankélévitchs musikphilosophischem Hauptwerk. Die Reihe an bislang nicht in deutscher Sprache verfügbaren Texte führt in die musikalische Welt der französischen Moderne ein. Mit stupender Repertoirekenntnis reflektiert der Autor etwa über „Seelenruhe und Zauber im Werk Gabriel Faurés“. Ein anderes Mal gelangt er auf der Basis des philosophischen Optimismus Henri Bergsons zu einer Definition von musikalischer Einfachheit. Im Schreiben hört er auch den Obertönen von musikalischem „Charme“ und klingender „Verve“ nach. Imponierend sind Jankélévitchs systematische Auseinandersetzung mit musikalischer Improvisation und sein schwärmerisch-philosophischer Blick auf das Mysterium des Erscheinens, wie es sich durch musikalische Virtuosität ereignet. Die Texte, die insgesamt weniger von analytisch zersetzender Logik als von einem fließenden und virtuos improvisierenden Verstand zeugen, spannen einen historischen Bogen von 1942, der Zeit der französischen Résistance, bis in Jankélévitchs Todesjahr 1985. Es scheint, als wären dabei die großen Themen, die sein Reflektieren über Musik, Geschichte, Gesellschaft und Moral prägten, dieselben geblieben. Die Vorstellung eines komplementären Wirkens von Dunkelheit und Hoffnung, die der Band gleich zu Beginn mit dem zutiefst berührenden Nocturne-Beitrag von 1942 exponiert, prägt noch ein nach seinem Tod veröffentlichtes Gespräch, das er mit Jean-Pierre Barou und Robert Maggiori führte. Zur Sprache brachte der in eine jüdische Intellektuellenfamilie hineingeborene Philosoph bei dieser Gelegenheit die prägenden Erfahrungen seines Lebens und Denkens: die Tragödie des Antisemitismus und die Magie des Verzeihens.
So weltflüchtig Jankélévitchs Mediationen über Musik auf den ersten Blick scheinen mögen, so sind sie gerade das in Wahrheit nie. Musik ist dem Autor der Texte nicht das Schöne, sondern ein Zugang zu einer ihn umgebenden Lebenswelt, in der auch Dichotomien aufeinanderprallen. Solche Prämissen von Jankélévitchs musikphilosophischem Kosmos erhellen das äußerst lesenswerte Nachwort des Herausgebers und die bemerkenswerte Übersetzung Kunzmanns. Die Übersetzung lässt der französischen Sprache ihr Geheimnis, trumpft nicht mit der Geste vollständigen Verstehens auf, sondern interpretiert im Sinne Walter Benjamins mit fremdem Blick das ohnehin immer unerreichbare Original.