Studierende des jeweiligen Abschlussjahrgangs am Max Reinhardt Seminar präsentieren sich im Zuge des sogenannten Absolvent_innen-Vorspiels, kurz AVO, mit Szenen und Monologen dem Fachpublikum. 2020 musste das AVO – wie so vieles – in den digitalen Raum verlegt werden. Wie das funktioniert hat, warum digitales Publikum ein echtes Gegenüber im Theater nicht ersetzen kann und welche Herausforderungen ein Vorsprechen mit sich bringt, darüber sprach das mdw-Magazin mit Annett Matzke, stellvertretende Institutsleiterin am Max Reinhardt Seminar.
Bis vor wenigen Jahren vereinbarten Schauspielschulen Vorsprechtermine für ihre Studierenden des Abschlussjahrgangs direkt mit den Theatern. Da das viel Zeit und vor allem Geld kostete, hatte die Ständige Konferenz Schauspielausbildung (SKS) vor einigen Jahren die Idee, zentrale Vorsprechen für die Schauspielschulen im deutschsprachigen Raum zu organisieren. „Man wollte die Absolvent_innen-Vorsprechen gleichberechtigter und effizienter gestalten. So organisiert nun die SKS einmal im Jahr, in der 46. Kalenderwoche, zentrale Vorsprechen für insgesamt 19 staatliche Schauspielschulen an den Standorten Berlin, Neuss und München“, erklärt Annett Matzke, die seit 2004 als Professorin für Sprachgestaltung am Max Reinhardt Seminar tätig ist. Unterstützt durch den Deutschen Bühnenverein müssen für eine Woche Probebühnen und Theatersäle angemietet und ein straffer Zeitplan erstellt werden – eine logistische Meisterleistung für die SKS. Intendant_innen und Dramaturg_innen, die Vakanzen an ihren Theaterhäusern haben, begeben sich in dieser Woche auf die Suche nach neuen Ensemblemitgliedern und laden die Studierenden im besten Fall zu weiteren Vorsprechen direkt an ihr Theater ein.
2020 kam bekanntlich vieles anders als geplant. „Coronabedingt beschloss die SKS Ende September 2020, die Absolvent_innen-Vorspiele diesmal online zu präsentieren. Bedingung war für alle Studierenden: zehn Minuten pro Student_in und abgefilmtes Theater.“ Die SKS stellte zur Präsentation die Plattform SPECTYOU zur Verfügung. „Mehr als 400 Theater wurden angeschrieben und nur über einen spezifischen Link erhielten die Theater Zugang zu dem Material. Das ist zum Schutz der Bewerber_innen unerlässlich,“ berichtet Matzke von der digitalen Variante des AVO. Während E-Castings, also Vorsprechen bzw. Castings via Video, in der Filmbranche üblich sind und immer wieder zum Einsatz kommen, herrschen im Theater noch andere Gesetzmäßigkeiten. „Man kann eine Menge auf einem Video sehen, was für eine Vorauswahl relevant ist. Interessieren sich Theater für bestimmte Absolvent_innen, werden sie aber anschließend zu einem Vorsprechen direkt am Theater eingeladen. Denn ohne die reale Arbeitsbegegnung kommt Theater nicht aus. Ein Video ist in diesem Fall kein (voller) Ersatz“, so Matzke.
Szenen, Monologe und manchmal auch Lieder, die in den vergangenen Semestern im Unterricht erarbeitet wurden, werden für das AVO ausgewählt. Die Lehrenden achten dabei vor allem darauf, womit sich die Studierenden am besten präsentieren können, also ihr Talent am deutlichsten zum Vorschein kommt. „Außerdem berücksichtigen wir, dass ganz unterschiedliche Figuren und Charaktere zu sehen und die Studierenden dadurch relativ breit aufgestellt sind“, berichtet Matzke vom Auswahlprozess für das Vorspiel. 2020 wurden die Studierenden vor eine besondere Herausforderung gestellt: „Für die Studierenden war und ist die gesamte Situation schwierig. Die Szenen werden für einen Theaterraum erarbeitet. Es sind keine Filmszenen und auch abgefilmtes Theater hat seine Besonderheiten: Wie gehe ich mit Raum um? Soll ich in die Kamera sprechen? Wie sind die Übergänge? Überträgt sich wenigstens etwas von der Atmosphäre auf der Bühne?“, sind die spezifischen Herausforderungen vor die die Studierenden coronabedingt gestellt wurden. „Theater ohne Publikum ist kein Theater. Die Schauspieler_innen spielen für das Publikum. Theater braucht es, dass Spielende und Zuschauende zur gleichen Zeit am gleichen Ort gemeinsam ein theatrales Erlebnis haben und direkte Reaktionen kommen, was online so nicht möglich ist“, ist Annett Matzke überzeugt. Unabhängig von der besonderen Situation 2020 bringt eine Vorspielsituation immer etwas sehr Spezielles mit sich. „Man kann das leider nur trainieren, indem man diesem Vorgang ausgesetzt ist“, so Matzke. „Beim ersten Vorsprechen sind Schauspieler_innen sicherlich äußerst nervös. Theaterleitungen schaffen hier obendrein selten eine Atmosphäre, in der sich Schauspieler_innen wohlfühlen können.“ Beim Vorsprechen geht es vor allem um die Konzentration und das sich Fallenlassen. „Man weiß, was die Figur zu verhandeln hat, was sie will und das bestimmt ihr Handeln. Eins mit sich selbst, der Figur und der Situation sein, ist wichtig, denn dann wird das Spiel sehr persönlich und authentisch“, so Matzke.
Es bleibt zu hoffen, dass im Herbst 2021 das Absolvent_innen-Vorspiel, inklusive der Aufführung in Wien zum Abschluss der Tour, wieder stattfinden und seine gewohnten Wege gehen kann.
Unter vimeo.com/maxreinhardtseminar kann das AVO von 2020 nachgesehen werden.