Suizidalität ist nachweislich seit der Antike ein – zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichem Maß – präsentes Sujet unzähliger Lieder, Opernarien und sogar einiger Instrumentalmusik. Unerfüllte Liebe, Verlust, Bewahrung der Ehre, Selbstopfer, Selbstzerstörung oder die Flucht vor der Bestrafung durch Mächtigere gehören zu den Motiven musikalischer bzw. musikdramatischer Darstellungen von Theokrits Hirtengesängen über zahlreiche ‚Abbandonata‘-Arien (Arianna, Armida, Dido… ), Balladen und Moritaten (Verstoßen oder Der Tod auf den Schienen) bis hin zum Suicide Blues oder Depressive Suicidal Black Metal. Während manche Stücke präsuizidale Symptome wie eine starke Einengung aufweisen, wie der nur einen Ton wiederholende Beginn von Othellos Arie Dio! Mi potevi scagliar, zielen andere Lieder mittels Walzerfröhlichkeit eher auf Abschreckung. Viele jüngere Songs bewegen sich musikalisch unspezifisch im Rahmen von Genrekonventionen, wobei sich manche Genres offenbar mehr als andere des tabubehafteten Themas annehmen.

Gleichzeitig wurde Musik immer wieder auch suizidale Wirkung nachgesagt. Beispielsweise der Psychiater Jean Pierre Falret berichtete in seiner Abhandlung über den Selbstmord (1822) von einer jungen Frau, die bei Arien aus der Oper Nina Suizidneigungen empfunden habe; der als Hungarian Suicide Song berühmt gewordene Song Gloomy Sunday (original: Szomorú vasárnap) wurde von der BBC angeblich bis ins Jahr 2002 nicht gespielt, und in den USA kam es in den 1980er Jahren wiederholt zu Klagen von Eltern gegen Heavy-Metal-Musiker, deren Songs ihre Kinder angeblich zum Suizid angeregt hätten.

Obwohl letztere Klagen sämtlich erfolglos waren, steht Heavy Metal noch immer an erster Stelle der ‚üblichen verdächtigen‘ Genres und fehlt auch heute in kaum einer Studie zum Verhältnis von psychischer Gesundheit bzw. von Suizidraten und Musikpräferenzen von Jugendlichen. Gruppen wie die 1982 gegründete kalifornische Band Suicidal Tendencies reagierten mit ihren Songs nicht zuletzt auf gesellschaftliche Symptome einer damals virulenten ‚Moral Panic‘, die sich beispielsweise in der Gründung des Parents Music Resource Center durch die sogenannten Washington Wives Tipper Gore und Susan Baker ausdrückte. Unter anderem beschuldigte Gore Musikindustrie und Musiker_innen, „inmitten einer nationalen Epidemie den Selbstmord von Teenagern zu fördern“, ohne dabei kritisch zu reflektieren, dass solche einfachen Erklärungen sich selbstredend verbieten.

Durch Medienberichterstattung und fiktionale Darstellungen von Suiziden angestoßene Nachahmungseffekte wurden nach Goethes Romanfigur „Werther-Effekt“ benannt, und die Frage, ob im Rahmen von Literatur, Film oder Musik dargestellte Suizide tatsächlich Imitationssuizide oder gar Suizidepidemien auslösen können, wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Beispielsweise hat die Netflix-Serie Tote Mädchen lügen nicht (2017–2020) eine entsprechende Debatte ausgelöst, in der u. a. der Vorwurf artikuliert wurde, sie romantisiere den Suizid der Hauptfigur Hannah Baker – ein Vorwurf, der vermutlich deshalb so laut ist, weil er ein jugendliches und damit spezifisch vulnerables Massenpublikum betrifft. Musik spielt in der Serie eine wichtige Rolle und sorgt mit der finster-traurigen Ambient Music von Eskmo und einer Reihe von suizidbezogenen ‚Teenage Angst‘-Songs (u. a. Billie Eilishs Bored) aus allen Epochen der musikalischen Jugendkultur für eine entsprechende, emotional aufgeladene Atmosphäre.

Ähnlich wie der „Werther-Effekt“ wird auch die Wirkung von Medienberichten und der Darstellung erfolgreich bewältigter suizidaler Krisen nach dem Vorbild der Papageno-Figur aus Mozarts Zauberflöte als „Papageno-Effekt“ bezeichnet. Die drei singenden Knaben halten ihn und zuvor die liebeskummergeplagte Pamina erfolgreich von ihren Vorhaben ab, weshalb hier eigentlich eher vom „Drei-Knaben-Effekt“ zu sprechen wäre.

Das Buch Mein Leben mit Mozart beginnt Éric-Emmanuel Schmitt mit den Worten: „Er meldete sich als erster. Eines Tages, ich war fünfzehn, schickte er mir eine Musik. Sie hat mein Leben verändert. Oder vielmehr: Sie hat mich am Leben erhalten. Ohne sie wäre ich längst tot.“ Der französisch-belgische Autor schildert in der Einleitung zu seinen Briefen an Mozart eindrücklich, wie das Miterleben einer Probe von Figaros Hochzeit an der Oper von Lyon den tief verzweifelten und suizidalen Jugendlichen aus seiner Lebensmüdigkeit zurückholte: „Meine Lebensgeister kehrten zurück. […] Mozart hatte mich gerettet. […] Heilung durch Schönheit … Zweifellos wäre kaum je ein Psychologe auf die Idee gekommen, eine solche Therapie bei mir anzuwenden.“ Und in der Tat erscheint mitunter die Auswahl der Musik, die Jugendliche hören, um sich emotional zu regulieren, aus Sicht der Erwachsenen oder der therapeutischen „Expert_innen“ eher kontraintuitiv. Wie wir in einer Studie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie feststellen konnten, wählten nicht wenige der befragten Patient_innen bewusst Musik aus, die in die oben erwähnten Kategorien von ‚Problem Music‘ gehören, um sich eben nicht selbst zu verletzen oder um sich von suizidalen Gedanken zu distanzieren (Stegemann et al., 2010).

Ein gemeinsam vom Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung und vom Institut für Musiktherapie organisiertes Symposium findet – nach zwei Covid-19-bedingten Verschiebungen – am 6. und 7. Mai 2022 im Liszt-Saal statt und bringt Vertreter_innen aus Kulturwissenschaft, Musikwissenschaft, Medizin, Musiktherapie, Psychotherapie und Suizidforschung zusammen, um das Thema aus diesen verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und zu diskutieren. Studierende der Musiktherapie und der Instrumental(Gesangs)Pädagogik (IGP) stellen daneben die Ergebnisse des im Wintersemester 2021/22 veranstalteten Seminars zur Rolle der Musik in der Netflixserie Tote Mädchen lügen nicht vor. Am Samstagabend wird das Symposium mit einer Podiumsdiskussion und einem Konzert mit Musik von Claudio Monteverdis Lamento d’Arianna bis Georg Danzers Heite drah i mi ham abgeschlossen.

Mit Beiträgen bzw. unter Mitarbeit von Andy R. Brown, Julia Heimerdinger, Susanne Korn, Thomas Macho, Paul Plener, Hannah Riedl, Dan Rujescu, Claudius Stein, Thomas Stegemann, Benedikt Till, Harm Willms und Studierenden der mdw. Zusammenstellung und Einstudierung des Konzertprogramms: Tanya Aspelmeier und Ottokar Prochazka.

Mehr Informationen unter:
mdw.ac.at/imi/veranstaltungen/musik-und-suizidalitaet

Literatur

Stegemann, T., Brüggemann-Etchart, A., Badorrek-Hinkelmann, A. & Romer, G. (2010). Die Funktion von Musik im Zusammenhang mit selbstverletzendem Verhalten und Suizidalität bei Jugendlichen – eine explorative Fragebogenuntersuchung. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 59, 810–830.

Schmitt, É.-E. (2008). Mein Leben mit Mozart. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch.

Gore, Tipper (1987): Raising PG kids in an X-rated society, S. 107, Nashville: Abingdon Press.

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