Das Ephemere und die performativen Künste
„Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes …“ – Homers Epos, das von den Irrfahrten des Odysseus kündet (hier in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß), beginnt mit der Anrufung der Muse. Sie soll von den Heldentaten erzählen. Wir hören zu, verspricht die Stimme im Proömium, und Die Odyssee beginnt … Geschichte erzählen und dem Erzählten zuhören. Nichts anderes meint Epos in seiner ursprünglichen Form, der Rhapsode trägt einen Text vor und verändert diesen während des Sprechens immer wieder. Das Erzählte hat dabei eine volatile Gestalt, immer wieder memoriert und als gesprochenes Wort doch immer auch vom endgültigen Verklingen bedroht. Homers Musen-Worte mussten daher aufgeschrieben werden, um heute noch ‚hörbar‘ zu sein. Sie veränderten damit aber grundlegend ihre Gestalt, aus vielfachen Rhapsoden-Auftritten wurde stummer Text.
Der Schritt vom nur momentan Hörbaren hin zum Festgehaltenen aber ist eine Metamorphose, in der sich eine der Antriebskräfte von Kultur erkennen lässt. Mit den verschiedensten Kulturtechniken versuchen wir, Flüchtiges festzuhalten: Wir sammeln Dinge, um uns an Personen oder Orte zu erinnern, wir kennen Symbole, um einem kurzen Augenblick zu materiell greifbarer Dauer zu verhelfen, wir begehen Rituale als in Form gefasste Wiederholungen von Momenten, die sonst in der Zeit verloren gehen würden, wir setzen Zeichen unseres Daseins – schreiben Memoiren, lassen uns porträtieren, machen Selfies oder ritzen unsere Namen in Baumrinden oder … – und haben, nicht erst seit den ägyptischen Pyramiden, Totengedenkkulturen entwickelt, um der Kürze unseres Daseins einen dauerhaften Kontrapunkt zu setzen. Vor allem entwickeln wir Codes, um das bloß Gesprochene, bloß Gehörte so aufzuzeichnen, dass es haltbar wird – will heißen: wieder erzählbar, wieder aufführbar, wieder erlebbar.
Mit dem Festhalten des Ephemeren also befasst sich Kultur – und scheitert regelmäßig an dieser Idee, zumindest dann, wenn man Festhalten als identisches Wiederholen oder ‚Kopieren‘ missversteht: Nicht das Gesagte selbst kann in Schrift haltbar gemacht werden, allenfalls dessen semantischer Gehalt (der freilich selbst wiederum an Haltbarkeit verliert, denn kaum etwas verändert sich schneller als der Kontext, den wir aber notwendig zum Verstehen brauchen). Und alles Gesagte, Gesungene, Gespielte verändert sich im Wiederholtwerden, ist also streng genommen nicht wiederholbar, allenfalls variierbar: Kein Auftritt, Konzert oder Opernabend ist wiederholbar, auch wenn die Spielpläne genau dies verheißen. Wenn aber das Festhalten immer wieder misslingt – notwendigerweise misslingen muss –, warum, so lässt sich fragen, werden wir nicht müde, es zu versuchen? Was hält uns, was fasziniert uns am Ephemeren?
Das Ephemere – also das, was laut Definition nur für kurze Zeit besteht, was vorübergehend und vergänglich ist – begleitet uns alltäglich und trifft uns metaphysisch. Unter Ephemera versteht etwa die Kulturgeschichte Dinge, die im täglichen Leben eher beiläufig, jedenfalls bloß kurz verwendet werden – von Gebrauchsgrafiken auf Briefpapier oder Etiketten über Bierdeckel bis hin zu Eintrittskarten, kurz: Dinge, die wir verwenden und bald wegwerfen. Zu den Ephemera in der Musik zählten übrigens Liedflugblätter, Gebrauchsgegenstände, die Lieder popularisierten, gedruckt auf billigem Papier, durch viele Hände gewandert, dann weggeschmissen oder – selbst billiges Papier war wertvoll – weiterverwendet wurden. Heute sind wir dankbar für diese Ephemera, die sich gegen alle Wahrscheinlichkeit erhalten haben: Auf diese Weise haben wir immerhin einige Sedimentschichten vergangener populärer Liedkulturen in Händen.
Metaphysisch freilich wird die Frage nach dem Ephemeren dann, wenn unser Augenmerk auf das Vergängliche zielt, das Vorübergehende, und damit auch auf unsere eigene Existenz. Die je nach Kultur spezifische Art des Totenkults und Totengedenkens sowie die Vorstellung, die wir uns vom Tod machen – wobei er doch, wie nicht nur Sigmund Freud meinte, das größte unserer Rätsel bleibt –, sind Versuche, auf den Affront, der die Vergänglichkeit für uns ist, eine Antwort zu finden. Diese dem Ephemeren eigene, kaum fassbare Spannweite zwischen Alltäglichkeit und Metaphysik wird noch ergänzt durch unser Suchen nach dem einen glückhaften Moment – „Verweile doch, du bist so schön!“ –, von dem wir nichts verlässlicher wissen, als dass er nicht dauerhaft ist. Glück, so meinte Theodor W. Adorno, sei ein Zustand, den man sich erst vergegenwärtigt, wenn man ihn verlassen hat. Anders gesagt: Das zuverlässigst Ephemere ist das Glück.
Für die paradoxe Idee aber, das Ephemere festzuhalten, stehen insbesondere die performativen Künste bereit. Eine ihrer ästhetisch reizvollsten Aufgaben besteht darin, das Verschwinden erlebbar zu machen und genussvoll hinauszuzögern. Komponist_innen haben sich nicht erst seit dem 20. Jahrhundert (das ein Faible für die Silence – die Abwesenheit des Tones – entwickelt hat) dem Ausgestalten des Verklingens gewidmet. Dabei ist auch jede Aufführung – Theater, Musik, Tanz – ein Erleben des Ephemeren; im Schlussakkord oder beim letzten Vorhang bleibt uns nichts als die Erinnerung an das Gehörte, Gesehene, Erlebte. Dass jede Ton- oder Video-Aufnahme nur ein Teil einer Live-Performance ist, liegt auch daran: Ephemeres ist gerade nicht dauerhaft und nicht wiederholbar (der besondere Reiz des Wiederholens wäre freilich ein ganz eigenes Thema). Darüber hinaus scheint es, als widmeten sich die performativen Künste geradezu mit Hingabe dem Verschwinden: Wie verklingt ein Ton? Was bleibt nach dem gesprochenen Wort, nach einer Bewegung im Raum? Wer auf der Bühne steht, weiß, dass eine besondere Aufgabe darin besteht, dieses Ephemere zu gestalten, auszudehnen und sein notwendiges Verschwinden mit ästhetischem Reiz so zu verbinden, dass der Schmerz des Verlusts schon im Moment des Erlebens bewusst wird.
So ästhetisch also das Verklingende sein kann, so unbarmherzig ist es für alle, die sich dem (endgültigen) Verklingen entgegenstellen wollen. Gerade die performativen Künste brauchen dafür ‚Hilfsmittel‘, um nach ihrem Aufführungsmoment nicht gänzlich zu verschwinden. Zusammen mit Körpergedächtnis und individuellen Memorierfähigkeiten sind Kulturtechniken des Aufzeichnens notwendig, um Aufgeführtes vor dem Verschwinden zu bewahren. Solche Kulturtechniken sedimentieren sich in Notationen (von Musik oder Tanz), Text- und Regiebüchern, Videoaufzeichnungen, Bildmaterial, Studienbüchern, Interpretationslehren, Beschreibungen u. a. m. Sind diese Aufzeichnungssysteme und -medien vorhanden, braucht es in weiterer Folge Menschen und Institutionen, die für die Bewahrung dieser Quellen verantwortlich zeichnen. Denn nur was überhaupt aufbewahrt wird, kann wieder(ge)holt werden. Von dieser Hürde können all diejenigen Quellen erzählen, die nie in Archive oder Bibliotheken aufgenommen wurden und denen schon auf diese Weise der Weg zum Wiedergehörtwerden frühzeitig versperrt blieb. Dies betraf nicht nur Musik von Komponistinnen, aber, da sich verschiedene Konzepte von Weiblichkeit schon seit Sapphos Zeiten probat mit dem Ephemeren verbinden ließen, diese besonders nachhaltig.
Alle Aufzeichnungssysteme – gleich ob schriftliche oder technische – verändern sich mit der Zeit. Darum braucht es neben dem Aufbewahren selbst auch das Wissen über das Lesen und Verstehen dieser Systeme. Nur so kann das Verschriftlichte wieder zur Aufführung gelangen. Lange Zeit etwa galten die Notationsformen des Mittelalters als nicht mehr aufführbar, weil das Wissen, wie sie zu lesen sind, verloren gegangen war. Auch die Frage, wie Homers Odyssee rhapsodisch vorgetragen klang, kann man allenfalls in Ansätzen rekonstruieren. Viele Klangwelten, auch wenn wir sie uns historisch imaginieren können, sind auf diese Weise endgültig verloren. Dieser Verlust lässt sich zu Recht tief bedauern: Wie gern hätten wir Sappho rezitieren oder Ira Aldridge als Othello erlebt, hätten Ludwig van Beethoven beim Improvisieren oder Clara Schumann als Pianistin zugehört! Aber auf das tiefe Bedauern folgt eine reizvolle und herausfordernde Einsicht: Gerade das Ephemere der performativen Künste schafft Raum für Neues – neue Interpretationen, eigene Klangvorstellungen, gegenwärtige Ideen.