Der Komponist György Ligeti (1923–2006)
Wesentlich mehr Menschen kennen seine Musik – oder besser gesagt Teile davon – als seinen Namen. Und doch war György Ligeti, dessen Geburt sich 2023 zum 100. Mal jährt, einer der berühmtesten Komponisten des 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Dass er 1968 schlagartig weltweit bekannt wurde, lag vor allem an der kongenialen Verwendung von vier seiner Kompositionen in Stanley Kubricks Science-Fiction-Film 2001: Odyssee im Weltraum. Neben Hits von Aram Chatschaturjan, Johann Strauss und Richard Strauss hatte der Meisterregisseur Auszüge aus Ligetis Klangkompositionen Atmosphères für großes Orchester und Lux Aeterna für sechzehnstimmigen gemischten Chor a cappella verwendet, außerdem aus seinen Aventures sowie dem Requiem. Waren allesamt diese Werke aus den 1960er-Jahren ebenso wie das für den Horrorfilm The Shining verwendete Lontano für großes Orchester, so griff Kubrick für seine letzte Arbeit Eyes Wide Shut, die an der Schwelle zum neuen Jahrtausend entstand, mit seinem untrüglichen Gespür für musikalische wie dramaturgische Wirkungen auf einen Satz aus Ligetis Anfang der 1950-Jahre entstandenen Musica Ricercata für Klavier solo zurück. Auch Laien können sofort erkennen, dass Welten zwischen diesem Stück und den übrigen liegen, was die verwendeten Klangmittel betrifft.
1923 im siebenbürgischen Diciosânmartin (heute Târnăveni) geboren, wurde er in Ungarn zum einen von der vorherrschenden, durch Bartók und Kodály vorgegebenen folkloristisch-modernen Richtung geprägt, zum anderen durch intensives Studium der Werke Bachs. Seine Kreativität war aber – wie bei vielen – durch die stalinistischen Restriktionen stark beschnitten. 1956 flüchtete er nach Österreich und kam über Wien nach Köln. Dort wurde er Mitarbeiter des elektronischen Studios des Westdeutschen Rundfunks, der damals ein Zentrum der Avantgarde war, und lernte die neuesten Kompositionstechniken kennen. Zur dominierenden Darmstädter Schule mit ihren strengen seriellen Vorgaben (also der Aufbereitung des „Materials“ in Reihen bei Tonhöhen, Notenwerten, dynamischen Werten usw.) nahm er aber bald eine kritische Distanz ein, die er auch schriftstellerisch artikulierte. Bald überraschte er mit eigenen Experimenten. Berühmt wurden vor allem seine Klangkompositionen Apparitions und Atmosphères mit ihrer bis ins Kleinste aufgefächerten Mikropolyphonie: flächige, in sich bewegte Klangfelder, wie sie übrigens in etwa gleichzeitig auch Krzystof Penderecki und Friedrich Cerha fanden. Gegenüber Letztem soll Ligeti, als er die Partitur von Spiegel sah, ausgerufen haben: „Du schreibst ja mein Stück!“ Der große Erfolg dieses Ansatzes in der Musikwelt verführte Ligeti allerdings nicht dazu, bei ihm zu verweilen. Stattdessen änderte er seine kompositorischen Mittel immer wieder aufs Neue – gleich in den 1960er-Jahren für die bunten Aventures und Nouvelles Aventures: Hier fand er (ähnlich wie Luciano Berio oder Dieter Schnebel) eine experimentelle Musiksprache, wobei Sprache wörtlich zu nehmen ist. Mit damals unerhörten menschlichen Lauten jenseits von Worten und die schnellen Wechsel zwischen Ausdrucksextremen schuf er eine Art „absurdes musikalisches Theater“ (Ulrich Dibelius), das zugleich als Parodie künstlerischer Ausdrucksweisen und menschlichen Verhaltens insgesamt verstanden werden konnte.
Als Komponist blieb Ligeti zeitlebens ein Meister der Überraschungen. Einmal kündigte er an, ein Poème symphonique zu schreiben und ließ damit ein programmatisches Orchesterstück auf den Spuren des 19. Jahrhunderts erwarten. Zu hören waren dann jedoch als Instrumente sage und schreibe einhundert mechanische Metronome, deren Pendelschläge durch verschiedene Geschwindigkeiten und vorab eingestellte Laufzeiten zuerst eine dichte Klangfläche ergaben, bis sich einzelne Stimmen herauslösten und schließlich verstummten. Darin konnte man auch ein Statement gegenüber einem emsigen, sinnentleerten Kunstbetrieb sehen. Als Sinnbild für die ganze Welt entstand dann Ligetis einzige, 1978 uraufgeführte Oper Le Grand Macabre – eine Parabel auf die drohende globale Katastrophe, aber zugleich auch eine böse Parodie auf die Gattung Oper selbst.
In den 1980er-Jahren schockierte und begeisterte der Komponist dann die Musikwelt mit seinem legendären Horntrio und dessen unverblümtem Anknüpfen an die romantische Tradition. Damals wurde zum einen übersehen, dass solche Bezüge Ligeti schon immer begleitet hatten, zum anderen überhört, wie deutlich verfremdet das Beethoven-Zitat des Beginns erklingt. Experimente machte er außerdem weiterhin, etwa in den Etüden für Klavier mit völlig neuartigen hochvirtuosen Techniken. So stehen in seinem bunten, vielfältigen Schaffen Reduktion und Expansion ebenso nebeneinander wie Ironie und Melancholie. Ein solcher Doppelcharakter zeichnete Ligeti auch als Menschen aus. Als er 2003, drei Jahre vor seinem Tod, als einer der Hauptkomponisten von Wien Modern persönlich beim Neue-Musik-Festival anwesend war, beeindruckte sein Wesen trotz körperlicher Gebrechlichkeit mit höchster geistiger Präsenz und einer Ausstrahlung von heiterer Weisheit.