Henning Backhaus, Regie-Studierender der Filmakademie Wien, gibt Einblick in seine Reise nach Südkorea zum Seoul Yeongdeungpo International Extreme-Short Image & Film Festival (SESIFF).
Wer im Flugzeug nach Seoul das Filmangebot in der Vordersitzlehne durchsucht, kann aus den unterschiedlichsten Kategorien auswählen: Action, Drama, Kinder, Komödie – und K-Movies. Selbstbewusst hat Südkorea den landeseigenen Film zur trendigen Marke und zum Exportschlager aufgebaut. Die ganze Welt kennt inzwischen die wilden Genre-Mixturen, mit denen die Halbinsel das internationale Kino auf den Kopf gestellt hat: Filme wie Parasite, The Host, Old Boy oder Serien wie Squid Game und Itaewon Class, die nicht nur in Asien Blockbuster sind.
Das Rückgrat dieser Erfolgsgeschichte ist vor allem die Filmbegeisterung im eigenen Land. Die Südkoreaner_innen lieben Filme und Serien aus eigener Produktion. Das geht sogar so weit, dass dem Monster aus The Host in Seoul ein lebensgroßes Denkmal spendiert wurde, ebenso dem Liebespaar aus der Serie Winter Sonata, das sich in Bronze gegossen auf Nami Island in die Arme fällt. Bei so viel Hingabe schleicht sich Wehmut ins Herz des deutschsprachigen Filmschaffenden. Aber Österreich und Deutschland sind weit weg, weit weg sind auch die Landkrimis und die deutschen „Komödien“. Es gibt Neues zu entdecken.
Das Seoul Yeongdeungpo International Extreme-Short Image & Film Festival lädt zur 12. Ausgabe, und eingeladen ist auch eine sechsköpfige Filmdelegation aus Wien. Grund sind 130 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen den Ländern und der diesjährige „Austria Focus“ des Festivals. Mehrere Kurzfilme der Filmakademie Wien wurden in einem Programmblock zusammengefasst (u. a. Bato Nebo, Echthaar, Fische), dazu gibt es eine Masterclass mit der Regisseurin Magdalena Chmielewska (Lullaby) und Das beste Orchester der Welt auf der Eröffnungsveranstaltung.
Überhaupt die Eröffnungsveranstaltung – sie ist episch! Der riesige, kuppelhafte Saal ist randvoll mit Publikum, als hätte es die Pandemie nie gegeben. Eine K-Pop-Show donnert von der Bühne (neuste Fashion-Must-haves: Nerd-Brille mit Fensterglas und unförmiger Trenchcoat), danach Reden, noch mehr Reden, Grußworte der Bezirksvorsteherin (gibt es auch in Seoul), Grußworte des Oberbürgermeisters. Es folgt die Preisverleihung eines Malwettbewerbs – plötzlich sind 40 Kinder auf der Bühne – und mit einem Konfettiregen wird das Festival endlich offiziell eröffnet. Ein zweistündiges Filmprogramm schließt sich an.
Das faszinierend uferlose Happening nimmt in gewisser Weise vorweg, wie uns Seoul in den kommenden Tagen begegnen wird: entgrenzt und voller undurchsichtiger Regelwerke. Ohne das Grundgefühl leichter Überforderung kann man sich nicht durch eine der größten Städte Asiens bewegen.
Wie so oft bei Filmfestivals gibt es die schönsten Begegnungen aber an den Nebenschauplätzen: Treffen mit der Filmabteilung der Chung-Ang University, viele Einladungen zum Essen, versacken in den Ausgehvierteln. Filme treten dann allmählich in den Hintergrund, um Platz zu machen für die neuen Bekanntschaften.
Seoul ist voller Widersprüche. Zwischen den architektonischen Kapriolen der Bürotürme drängen sich tausende kleine Garküchen und Restaurants. Abends betrinken sich hier die Koreaner_innen und spülen sich den streng organisierten Alltag herunter. Es ist gesellschaftlich akzeptiert, deshalb am nächsten Morgen zu spät im Büro zu erscheinen. Die Straßen sind voller junger Menschen, aber Südkorea leidet unter der niedrigsten Geburtenrate der Welt. Selbst mit guter Ausbildung ist es schwer, einen passablen Job zu ergattern, der Wohnungsmarkt ist katastrophal, gleichzeitig steigen die Ansprüche aller an alle: die Ansprüche der Frauen an die Männer, die Ansprüche der Familien an die Frauen, Schönheitsoperationen boomen, auch die Suizidrate steigt (ohnehin eine der höchsten der Welt). Das Straßenbild ist ausstaffiert mit schrillen Maskottchen für jeden Anlass, und über öffentliche Monitore läuft infantile Regierungspropaganda (gerne gegen Japan).
Doch hinter den Fassaden geben sich viele Menschen lieber dem „Han“ hin, einer tiefempfundenen Trauer, so typisch für das Land, dass sie bereits ein Kulturprinzip ist. Die Wurzeln des „Han“ liegen nicht zuletzt in der Geschichte Koreas, das seit jeher von den Kriegen expansiver Nachbarstaaten überzogen wurde. Der Koreakrieg (offiziell nie beendet), die Teilung des Landes und Kim Jong-un, „the crazy guy in the north“, passen in ein Gesamtbild, das sich über viele Jahrhunderte erstreckt. „Han“, das ist das ganz reale Gefühl tiefer Hilflosigkeit, des Aushaltens, vielleicht der Resignation. Und je später der Abend, desto größer das „Han“.
Hier schließt sich der Kreis zum südkoreanischen Film. Die vielschichtigen Probleme des Landes und eine unauflösbare Schwermut nähren ein Kino, das scharfsinnig und sinnlich zugleich ist und dem es immer wieder gelingt, mit eingefahrenen Erwartungen zu brechen. Im Alltag ist vieles zu erdulden – im Kino gibt es keine Kompromisse. Nicht, dass das mit Leichtigkeit passieren würde, auch auf dem SESIFF gibt es mittelmäßige koreanische Filme. Aber zumindest passiert immer etwas.
Was kann man daraus für sich mitnehmen? Vielleicht das: Auch in Europa sind die Probleme nicht eben klein, oft fällt das Wort „Zeitenwende“. Eigentlich gibt es viel zu erzählen, eine gute Zeit für Geschichten. Wäre es nicht eine Erlösung, wenn diese endlich ohne Abstriche erzählt werden könnten, inhaltlich und ästhetisch? Ohne Konzessionen an Förderfunktionäre oder mumifizierte TV-Anstalten? Das hieße nämlich auch: Erzählen ohne Angst. Was könnte das bringen? Vielleicht ein Publikum, das das eigene Kino wieder ernst nehmen würde. Es muss ja nicht gleich Statuen errichten.
Korea sollte man jedenfalls auf dem Schirm haben, auf dem Bildschirm und auch sonst.