Am Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung fand im Wintersemester 2023/24 eine Ringvorlesung statt, die sich dem Thema Musik als Erinnerung widmete. Expert_innen unterschiedlicher Forschungsdisziplinen thematisierten auf Einladung von Melanie Unseld und Nikolaus Urbanek vielfältige Phänomene von Musik als Erinnerung, um hierbei sowohl an interdisziplinäre Diskurse der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung anzuknüpfen, als auch die Eigenheiten der Musik in ihrer Spezifik zu Wort kommen zu lassen.
Als gemeinhin flüchtigste der Künste angesehen, ist Musik stets unmittelbar dem Vergessen anheimgegeben – bereits im Erklingen ist ihr Verklingen angelegt. Offenbar gerade deshalb spielt Erinnerung im Bereich des Musikalischen eine große Rolle, zahlreiche Praktiken und Techniken wurden entwickelt, um Musik zu erinnern: von oralen Memorier- und Tradierungskünsten bis zu diversen Aufschreibe- und Aufzeichnungssystemen. Was aufbewahrt wird, wer für wen und für welches Wieder-Hören aufbewahrt, ist dabei identitätsstiftend: Praktiken des Erinnerns erzählen immer auch von Relevanz und Bedeutung, von Verdrängung und Überschreibung. Musik als Erinnerung zu denken, berührt mithin zahlreiche grundsätzliche Fragen von Musikhören und Musikmachen, von Identität und Selbstbildung, von Kanonisierung und Repertoire, von Archiv und kulturellem Gedächtnis, aber auch von Vergessen, Verklingen und Verlust. Seit Maurice Halbwachs hat sich in den Kultur-, Geistes-, Sozial- und Neurowissenschaften eine interdisziplinäre Erinnerungsforschung ausdifferenziert, an die es in Hinblick auf Spezifika des Musikalischen anzuknüpfen gilt.
Erinnerung in der Musik
Figuren erinnernden Hörens spielen, über zeitliche und ästhetische Grenzen hinweg, in vielen musikalischen Kulturen eine wichtige Rolle: Refrain, Rondo, Reprise, Sampling, Mash-up, Variationen, Leitmotivtechnik, Call-and-Response oder Musiker_innen – gleich ob improvisierend, komponierend oder interpretierend, samplend oder sammelnd. Dies betrifft Kompositionstechniken ebenso wie Praktiken des Musikmachens, die auf den singenden und musizierenden Körper bezogen sind, und wird paradigmatisch in eigenen musikalischen Memoriertechniken greifbar, die nicht nur auf orale Traditionen beschränkt sind.
Speichermedien und Speicherorte
Um Musik erinnern zu können, bedarf es eines Speichermediums. Dabei bedingen die einzelnen Medien unterschiedliche Formen musikbezogenen Erinnerns, wodurch die Frage aufgeworfen wird, welche Musik mithilfe welcher Medien auf welche Weise erinnert werden kann. Als konkrete Speicherorte fungieren Museen, Archive, Bibliotheken, Datenbanken u.v.m., die mentale Codes erinnernder Gesellschaften (re)produzieren, sodass von ihnen eine besondere identitätsbildende und -stabilisierende Kraft ausgeht. Auf diese Weise formieren sich Wissensordnungen, die zur Grundlage von Kanonisierungsprozessen und Phänomenen von Erinnerungskultur werden. Vorhandene, fehlende, verlorene bzw. verlassene Speichermedien und Speicherorte haben großen Einfluss darauf, was wir (nicht) hören, welche Musik uns (nicht) umgibt.
Kollektive Erinnerung qua Musik: Identität und Geschichte
Musikalische Erfahrung stellt einen wichtigen Aspekt menschlicher Identitätsbildung dar. Individuelle musikalische Erinnerungen (im Sinne einer subjektiven Hörbiografie) scheinen auch dann noch tief verwurzelt zu sein, wenn Demenz andere Formen des Erinnerns auszulöschen beginnt. Musik ist damit ein wichtiger Impuls für Selbstbildungsprozesse. Zugleich ist sie ein bestimmendes Medium und hält hohes identifikatorisches Potenzial bereit, wenn es um emotionale Vergemeinschaftung und kollektive Identitäten geht. Nicht zuletzt kann Musikgeschichte an Grundfragen von Geschichte und Gedächtnis partizipieren: Von Oral History bis memoriksensibler Quellenkritik, aus postkolonialer Perspektive oder entlang einer Geschlechtergeschichte – die Historiografie befasst sich mit zahlreichen Phänomenen, deren Relevanz für die Musikgeschichte spezifisch auszuloten und mit der Spezifik von Hörwissen in Verbindung zu bringen sind. So vielfältig die Fragen sind, die an musikbezogene Phänomene des Erinnerns (und Vergessens) herangetragen werden können, so eng verbunden sind diese mit Grundsatzfragen von Temporalität. Dabei kann Musik, die gerne als Zeitkunst verstanden wird, sehr unterschiedliche Konzepte von Zeitlichkeit vertreten, kann Zeitlichkeit(en) erfahrbar machen oder kann auf Zeitwahrnehmungen reagieren und vieles mehr. Das Phänomen des Erinnerns greift dabei nicht nur in die Vergangenheit zurück, sondern konstituiert sich in der Gegenwart, genauer noch: in den jeweiligen Momenten von Gegenwart.
Vortragende der Ringvorlesung waren Ariane Jeßulat (Universität der Künste Berlin), Tobias Robert Klein (Humboldt-Universität zu Berlin), Martin Zierold (Hochschule für Musik und Theater Hamburg), Marie Louise Herzfeld-Schild (mdw), Carolin Stahrenberg (Anton Bruckner Privatuniversität Linz), Anja-Xiaoxing Cui (Universität Wien), Ralf von Appen (mdw) sowie beim abschließenden Roundtable Kerstin Klenke (ÖAW), Benedikt Lodes (Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek) und Rebecca Wolf (Staatliches Institut für Musikforschung, Berlin). Eine Publikation der einzelnen Vorträge ist geplant.