Ein kollektiver autoethnographischer Erfahrungsbericht

Die mdw-Studierenden Matteo Balata, Kenaya Quiñonez, Hannah Roitinger, Judith Schusteritsch und Stefanie Wieser berichten im Folgenden über Erfahrungen im Rahmen des Seminarprojekts Klang.Stadt.Klang. Straßenmusik autoethnographisch erforschen. Die Wir-Erzählform wurde bewusst gewählt, um die subjektive und doppelte Involvierung der Teilnehmer_innen in den Feldforschungsprozess – als Musiker_innen und Wissenschafter_innen – transparent zu machen. Das Seminarkonzept sowie die Projektleitung oblag Sarah Chaker vom Institut für Musiksoziologie.

mdw-Studierende machten Straßenmusik am Donaukanal. © Sarah Chaker

Wie können wir als Musiker_innen den alltäglichen Stadtraum mitgestalten? Wie beeinflussen Gegebenheiten wie der gewählte Platz und das Wetter sowie ein mobiles und direkt interagierendes Publikum die musikalische Performance? Wie funktioniert das Musizieren auf der Straße im Vergleich zu einem traditionellen Bühnen-Setting? Dies sind nur einige ausgewählte Fragen, die wir mdw-Studierende uns gestellt haben, bevor wir uns im April 2024 am Wiener Donaukanal erstmals als Straßenmusiker_innen versucht haben.

Zu Beginn des Semesters hatten wir uns in der wissenschaftlichen Lehrveranstaltung Klang.Stadt.Klang. Straßenmusik autoethnographisch erforschen von Sarah Chaker kennengelernt. Das Seminar war Teil des mdw-Großprojekts KlangBildKlang, welches im Verlauf des Sommersemesters 2024 in unterschiedlichen Veranstaltungsformaten den Verknüpfungen von Klang und Bild transdisziplinär nachspürte.

Im Seminar setzten wir uns zunächst mit dem Begriff der Geschichte sowie der Praxis der Straßenmusik auseinander. Wir erhielten Einblick in die soziologische Stadtforschung und beschäftigten uns im theoretischem Rekurs auf die Soziologin Martina Löw 1 mit dem engen Raumbezug dieser Musizierpraxis.

In der Vorbereitung für unseren Auftritt auf der Straße befassten wir uns außerdem mit den rechtlichen Grundlagen und Vorgaben für Straßenmusik in Österreich, insbesondere in Wien. Auf Basis der gültigen Wiener Straßenkunstverordnung aus dem Jahr 2012 identifizierten wir schließlich einen geeigneten Standort für unser Experiment, was nicht einfach war – viele für Straßenmusiker_innen attraktive Plätze in Wien sind nämlich nur mit einer kostenpflichtigen, lange im Voraus zu beantragenden Platzkarte zugänglich.

Halbwegs attraktiv, da zentral, erschien uns schließlich ein Platz an der Gisela-Werbezirk-Promenade am Wiener Donaukanal, der ab mittags ohne Platzkarte für Straßenmusik genutzt werden darf. Dankbar waren wir für Hinweise, Erfahrungsberichte und Tipps vom bereits straßenmusikerfahrenen Studienkollegen Sebastian Engler, der uns später dankenswerterweise auch beim Straßenmusizieren unterstützt hat.

Bei der Musikinstrumentenauswahl einigten wir uns auf leicht zu transportierende Instrumente (Cello, Gitarre, Querflöte, Klarinette und ein Cajon), die nach den Vorgaben der Wiener Straßenkunstverordnung nach nicht elektronisch verstärkt gespielt werden dürfen. In der Repertoireauswahl waren wir stilistisch vielfältig, um die Wirkung von unterschiedlichen Genres auf Raum und Publikum zu beobachten. Bei einem gemeinsamen Probennachmittag stellten wir ein Programm zusammen, das sich von Pop und Jazz über Film- und Volksmusik bis hin zu klassischer Musik erstreckte. Die gewählten Stücke spielten wir außerdem in unterschiedlichen Formationen – mal waren alle Instrumente beteiligt, mal musizierten wir in kleineren Ensembles.

Erspielen statt Bespielen: Wie funktioniert das Musizieren vor und mit einem mobilen Publikum? © Sarah Chaker

Zentrales Datenerhebungstool für unsere autoethnographische Forschung war ein Forschungstagebuch, das uns im Seminar von Anfang an begleitete und in welchem wir unsere Überlegungen zum Thema, subjektive Gedanken, Erkenntnisse und Beobachtungen festhielten. Die autoethnographische Forschungsmethode ist nach Tony E. Adams und Kolleg_innen (2018) 2 zwischen der Ethnographie und der Autobiographie anzusiedeln und betrachtet subjektive Erfahrungen im Feld als produktiv, sofern sie reflektiert und systematisch ausgewertet werden.

Wir waren also zugleich als Musiker_innen und als Forschende im Feld unterwegs und konnten unsere künstlerischen Erfahrungen für den Forschungsprozess fruchtbar machen, indem wir unsere Feldnotizen später transkribiert, anhand eines Kategorienleitfadens systematisch ausgewertet und gemeinsam reflektiert haben. Im Folgenden berichten wir einige ausgewählte Ergebnisse unserer Straßenmusiziererfahrungen, die auf unseren Forschungstagebuchaufzeichnungen beruhen:

Musikinstrumente als visuell-ästhetischer Beitrag zum Stadtraum
Eine Sichtbarkeit von Klängen, oder von möglichen Klängen, im Raum zeigte sich schon, bevor wir zu spielen begonnen hatten. Noch bevor ein Ton erklungen war, verlangsamten Passant_innen ihre Schritte oder hielten an, um uns beim Aufbau der Instrumente zu beobachten. Einige Menschen stellten neugierige Fragen, andere Vorbeigehende nahmen sich vor, zurückzukommen, sobald wir zu spielen begonnen hätten. Offenbar weckten unsere Aktivitäten Interesse und Vorfreude auf das, was noch kommen würde, d.h. wir erregten schon rein visuell über unsere Musikinstrumente Aufmerksamkeit. Somit erweiterten wir visuell-ästhetisch das Bild der Uferpromenade, die durch Graffiti/Street Art und Kunstwerke selbst künstlerisch-bunt gestaltet ist.

Transformation des Stadtraums durch Musik
Während des Spielens nahmen wir den Raum um uns intensiv wahr. Wir bemerkten bald, dass der Ort zwar in Bezug auf das künstlerische Ambiente gut gewählt war, er durch seine Längsstreckung aber nicht per se zum Verweilen einlud, sondern eher den Charakter einer „Durchzugsstrecke“ einnahm. Mit unserer Musik gelang es uns immer wieder, diese Funktion aufzubrechen und den Durchgangsverkehr zu stoppen. Fußgänger_innen blieben stehen, setzten sich, applaudierten oder warfen einen kleinen Geldbetrag in den aufgestellten Flötenkoffer.

Durch unsere Musik-Aktivitäten bekam der Raum sozusagen kurzfristig ein Zentrum und veränderte seine Funktion. Allerdings: Durch die längeren Umbaupausen, die sich zwischen den einzelnen Stücken ergaben, verlor sich dieser Effekt relativ schnell wieder. Mit wachsender Straßenmusik-Routine aber ließe sich der Funktionswandel mit Sicherheit über längere Zeit aufrechterhalten.

Unser Auftritt veränderte den Raum auch in dem Sinne, dass sich über die Musik eine fröhliche, gelassen-entspannte Atmosphäre verbreitete. Eine Kollegin schilderte im Forschungstagebuch den Eindruck, dass unser Musizieren auch die Hintergrundmusik für eine Ausstellung im Freien hätte sein könnte. Festhalten lässt sich außerdem, dass wir bei vielen Menschen, die den Raum zunächst als reinen Verkehrsweg betraten und nutzten, durch unsere musikalischen Beiträge etwas Positives bewirken konnten. Auch wenn längst nicht alle Personen stehenblieben, so konnten wir doch beobachten, dass wir mit unserer Musik vielen Vorübergehenden ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnten.

Die Straße als Bühne: Raum- und Funktionswandel über Musik. © Sarah Chaker

Praktische Erfahrungswerte
Obwohl die Ästhetik des Wiener Donaukanals insgesamt gut mit unserem Auftritt harmonierte, ist für das Ausüben von Straßenmusik ein kompakterer Platz, der von vornherein – etwa durch vorhandene Sitzgelegenheiten – zum Verweilen einlädt, sicherlich von Vorteil. Bezüglich des Repertoires lässt sich festhalten, dass nicht nur Popsongs, sondern insbesondere auch die klassischen Stücke beim Publikum Anklang fanden. Auch das Wetter spielt bei Straßenmusik eine maßgebliche Rolle – uns machte vor allem der Wind zu schaffen, der unsere Notenblätter verwehte. Auswendig spielen zu können ist Straßenmusiker_innen definitiv anzuraten.

Neben diesen praktischen Überlegungen unterscheidet sich das Spielen auf der Straße von einem Bühnensetting dadurch, dass es weniger planbar ist und wesentlich mehr Raum für Spontaneität bietet. Dies führte in unserer Gruppe zu einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Perfektionismus bzw. ließ uns unsere Ansprüche an den eigenen musikalischen Auftritt und den traditionellen Blick auf das „Publikum“ überdenken. Das innere Gefühl während des Spielens auf der Straße beschrieb eine Kollegin so: „Man spielt quasi in die Welt hinaus.“

Alles in allem hielt die Erfahrung des Straßenmusizierens bereichernde Momente für uns bereit, die uns sowohl persönlich als auch professionell in unserem weiteren Leben als Musiker_innen beeinflussen. Die Eindrücke am Donaukanal gestalteten sich für uns, die bis dato noch keine Erfahrungen mit Straßenmusik hatten, insgesamt sehr vielfältig und überwiegend positiv. Besonders gefallen hat uns, das Publikum direkt an der eigenen Freude und Liebe zum Musizieren teilhaben lassen zu können und von den Menschen direktes Feedback zu erhalten, sei es durch Stehenbleiben oder Weitergehen, eine kleine Spende, oder auch die Aufnahme eines Gesprächs. Die Erfahrung bereitete uns Lust auf mehr und wir können uns vorstellen, den öffentlichen Stadtraum als Musiker_innen auch weiterhin für Straßenmusikprojekte zu nutzen.

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