Weltstar Ute Lemper beschreibt in ihrem kürzlich erschienenen Buch Die Zeitreisende ihren ungewöhnlichen Weg als Künstler_in und darin auch ihre Zeit am Max Reinhardt Seminar. Im Rahmen ihrer Lesereise machte die vielfach ausgezeichnete Schauspielerin, Sängerin, Tänzerin und Autorin Halt in Wien und besuchte auch das Max Reinhardt Seminar zu einem Interview.
Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Studienzeit am Max Reinhardt Seminar?
Ute Lemper (UL): Es war ein ganz wichtiges Kapitel in meinem Leben. Ein Gewölbe der Selbstfindung. Wir hatten wunderbare Lehrer_innen damals, wahre Wegweiser, wie mein Hauptlehrer_innen Karlheinz Hackl, Ernie Mangold und natürlich Samy Molcho. Es war eine intensive Zeit in Wien, lange Abende im Akademietheater und Auftritte von Gertraud Jesserer und Erika Pluhar. Eine große Inspiration war für mich damals Maria Bill als Edith Piaf, das war kein Spiel – es war eine Wahrheit. Das werde ich nie vergessen. Alle Theaterabende bereiteten uns auf die Realität vor, die unsere Zukunft werden sollte.
Sie haben sehr erfolgreich in Großproduktionen wie der Wiener Uraufführung von Cats, Cabaret in Paris, Der Blaue Engel in Berlin und als Velma Kelly in Chicago im Londoner Westend und später am Broadway gespielt. Wie haben Sie es geschafft, in diesen Shows trotz des choreografischen Korsetts ihre künstlerische Freiheit zu finden?
UL: Bei Cats ging es für mich nur darum, dass ich in jeder Geste, in jeder Bewegung den Sinn gesucht und gefunden habe. Die emotionale Intention in der Geste zu realisieren. Ich war unglücklich, eine Katze zu sein, denn ich wollte interpretieren, wie wir es am Seminar gelernt hatten. Trotzdem war in diesem Katzending diese Wildheit, die Dunkelheit und diese Sehnsucht nach Licht. Man hatte im Tanz etwas Theatralisches darzustellen. Irgendwann habe ich gesehen, dass viele um mich herum einfach nur die Choreografie tanzten. Sie tanzten technisch sehr gut, viel besser als ich, aber sie haben sich emotional überhaupt nicht beteiligt, waren immer auf Sparflamme. Man gibt 75 Prozent, um der Choreografie gerecht zu werden, aber diese 25 Prozent am absoluten Geben und emotionaler Investition fehlten vielen. Bei mir waren es vielleicht 50 Prozent Technik und 50 Prozent Interpretation. Aber das hatte natürlich auch zur Konsequenz, dass ich so viel müder war als die anderen. Ich habe immer alles gegeben, als ob es kein Morgen gäbe. Das war für mich der Sinn des Spiels. Dass du da irgendwas herumlügst, dir eine Maske aufsetzt und dir etwas vorspielst. Fake? Das ging nicht. Das Spiel hatte einen Anspruch an eine universelle Existenz. Das war fast spirituell.
Und dann ist da eben diese feine Linie: Ist der/die Schauspieler_in Selbstdarsteller_in im exhibitionistischen Sinne oder nur Medium für dieses Stück, diese Rolle, diesen Körper, dieses Wort, wenn der/die Schauspieler_in merkt, dass er/sie das Sprachrohr für etwas Größeres ist. Es ist also seine/ihre Stimme, sein/ihr Leben, seine/ihre Erfahrungen, seine/ihre Emotion, aber da ist noch etwas dahinter, was größer ist. Und das ist die Geschichte, die von dem/der Schauspieler_in erzählt wird. Wenn diese Demut da ist, dass man eigentlich Instrument für etwas Größeres ist, das finde ich eine sehr wichtige Geschichte. In Chicago war mir die Rolle der Velma zu eindimensional. Und ich dachte: What am I doing here? Es ist alles Slapstick. Ich darf nie die Tür zu meinem Herz öffnen. Ich wollte aussteigen. Und dann hat mir mein Mann gesagt: „You have to do it. It is an incredible role. Du bist so super in deinem Tanz, in deinem Tanzstil, das ist dir wie auf den Leib geschrieben. Such in dieser Rolle auch diese Zweifel und Verzweiflung, die du jetzt spürst. Und diese Resignation – such sie in der Rolle, das macht dich umso stärker.“ Ich ging zurück und sagte mir, dass die Zweifel jetzt keinen Sinn mehr haben – jetzt gehe ich voll rein und spiele.
Für Ihre Interpretationen von Bertholt Brecht und Kurt Weill werden sie weltweit gefeiert. Sie waren früh in Amerika „Crossover Artist of the Year“. Wann entdeckten Sie das Werk von Brecht und Weill?
UL: Das erste Seminar zu Brecht und Weill, das Helmut Baumann in Salzburg gegeben hat, als ich selbst noch Schülerin war, war eine Entdeckung für mich. Es gab damals in den 1980er-Jahren nichts auf Deutsch, was man singen wollte. Es gab Schlager, Peter Maffay hatte seine Rockgeschichte, und ansonsten nichts. Marius Müller-Westernhagen, Udo Lindenberg und Nina Hagen kamen etwas später. Da war ein Vakuum. Und dann habe ich diese Lieder gehört aus der Dreigroschenoper, den Matrosen-Tango, Happy End, Das Lied vom Branntweinhändler und Der Song von Mandalay. Und da steckte diese kleine Aggression drin, die ich als junger Mensch so gespürt habe. Dieses kleine Stück Punk, wie wir es damals genannt haben. Ich suchte Ausdruck in einer Musik, die auch Klasse hat. Und das waren Brechts Worte, Weills Musik. Das war für mich ein Sprachrohr meiner Generation. So habe ich es zumindest empfunden, obwohl es für die anderen meiner Generation völlig uninteressant schien und altmodisch war. Ich konnte mich damit richtig gut identifizieren und meine junge, rebellische Natur in diesen Liedern wiederfinden.
Was ist Ihnen in Ihren Musikinterpretationen wichtig?
UL: Je älter ich werde, desto mehr finde ich die Momente der Stille viel stärker als die Momente, die gefüllt sind mit Worten oder Musik. Auch die Stille in der Musik. Ich sage immer zu meinem Pianisten: „Warte doch mal, füll nicht gleich aus. Lass den Akkord einfach stehen. Du brauchst nicht herumimprovisieren. Setz dich auf die rechte Hand und mach gar nichts. Lass nur den Klang, den Akkord, die Harmonie im Raum stehen. Und dann kann sich das Wort hineinfallen lassen und fügen.“ Gerade auf der Bühne sollte nicht die Musik der Antreiber sein, sondern der Untertext. Ich sage meinem Pianisten oft, wenn ich in der Szene drin bin, dass er einfach nur einzelne Töne wie Filmmusik spielen soll. Der einzelne Ton bedeutet so viel. Man muss keine Kadenz und keinen Song spielen. Nur ein Ton ist schon so viel, bedeutet so viel.
Gibt es nach all den Erfolgen und Preisen noch Momente des Zweifels?
UL: Ich habe solche großen Selbstzweifel. Oft denke ich bis zum Soundcheck oder bis zur Probe: „Ich bin eine absolute Null, ich kann gar nichts.“ Und dann plötzlich geht es in eine andere Dimension von Existenz – dort angekommen fühle ich wieder alles. In den Fingerspitzen, in der Stimme, in der Sprache, vor allen Dingen auch in der Atmosphäre, die dann so knistert. Und dann spüre ich diese andere Ebene von Menschsein, die ich brauche, um auf der Bühne zu stehen. Ich möchte es gar nicht interpretieren oder analysieren. Man kann es gar nicht. Man kann es nur empfinden. Der Zweifel darf eine_n auf keinen Fall depressiv machen oder niedermachen. Im Gegenteil. Zweifel ist, glaube ich, eine gesunde Demut.
Sie haben in Robert Altmanns Film Prêt-à-Porter, in Peter Greenaways Verfilmung vom Sturm (Prosperos Bücher Anm. d. Red.) nach William Shakespeare u. v. a. Filmen gespielt. Wie sehen Sie Ihre Arbeit mit dem Medium Film?
UL: Wird hier Film unterrichtet? Es ist ja eine völlig andere Methode.
Wir haben ab dem zweiten Studienjahr eine aufbauende Filmausbildung mit Filmübungen, Castingtraining, Showreel-Dreh und Filmarbeit in englischer Sprache. Wie in der Schauspiel- und Regieausbildung unterrichten auch in der Filmausbildung viele herausragende Persönlichkeiten aus der Praxis am Seminar.
UL: Das finde ich sehr wichtig. Es überrascht mich selbst immer, wenn ich Filme mache, dass man alles zurückdrehen muss. Nur „Internalizing“, nur nach innen, die Sprache darf nicht mehr gestellt oder zelebriert sein, man soll einfach nur echt sein. Ich habe zuletzt Die Zweiflers, eine deutsche Serie, gedreht, in der die Geschichte einer jüdischen Familie erzählt wird und die direkt nach dem zweiten Weltkrieg in Frankfurt spielt. Und habe die Rolle einer Weimarer Kabarettsängerin in einem italienischen Film von Michele Placido übernommen. Film ist eine andere Disziplin und sollte auch am Seminar gelehrt werden.
Sie haben viele eigene Abende kreiert und gespielt. Wie arbeiten Sie bei der Entwicklung eines Theaterabends und in der Eigenregie, wie zum Beispiel bei Ihrem Dokumentartheaterstück Rendezvous mit Marlene?
UL: Mein Marlene-Dietrich-Abend beruht auf einem Telefonat, das ich in den 1980er-Jahren mit ihr in Paris geführt habe. Während ich schreibe, lebe ich es ja schon. Das heißt, ich mache fast die Regie, während ich schreibe. Ich krieche in sie rein, es ist alles die Figur Marlene Dietrich, wie sie als 87-Jährige war. Nur in den Musiknummern werde ich dann Ute. Ansonsten bin ich sie und erzähle die Geschichte. Es ist ihre Geschichte aus der Perspektive als 87-Jährige.
Was ist aus Ihrer Sicht für junge Schauspieler_innen und Regisseur_innen wichtig?
UL: Das Leben wächst in Proportion zu deinem Mut. Ich war immer sehr mutig. Nur so kann man herausfinden, wie weit man gehen kann. Je mehr man seine Batterie anzapft, desto stärker wird sie. Das ist anstrengend. Je mehr du diese Kraft schulst, desto größer wird sie. Sei rebellisch. Es ist gut, wenn man nicht angepasst, sondern ein Paradiesvogel ist. Also je größer und eigenartiger die Persönlichkeit ist, desto besser. Wie sagte Max Reinhardt: „Nicht Verstellung ist die Aufgabe des Schauspielers, sondern Enthüllung.“ Es ist wichtig, sich als Mensch zu definieren. Das heißt also, sich zu bilden, eine Meinung zu haben über die Gesellschaft, in der wir leben, und die Politik, die wir leben. Die Ungerechtigkeit, die schlaflosen Nächte, die Frage „wo gehöre ich hin?“. Ich habe meine Wiener Jahre als freien Fall gelebt. In diesem musst du deine neue Identität als Mensch, als Künstler_in und als Schauspieler_in in dieser Welt finden. Wo auch immer du landest, suche weiter. Es hat sich eine völlig andere Dimension in mir geöffnet. Nur diese Kraft an Menschlichkeit in dir, wird dir auch die Tür zur Schauspielerei eröffnen.
Ute Lemper hielt am 19. März 2024 eine Meisterklasse mit Studierenden des Max Reinhardt Seminars. Die Spannung ist spürbar, als Ute Lemper den vollen Raum betritt. Zugewandt und frei spricht sie zu den Studierenden. Sie erzählt von der Wichtigkeit der Erfahrungen, die sie am Seminar gemacht hat, von ihrer Leidenschaft, als Künstlerin alles zu geben. Von ihrem Mut, immer weiterzugehen und Situationen Schritt für Schritt zu bewältigen. Im anschließenden Meisterkurs zeigt sie, dass sie auch eine begnadete Pädagogin ist.
Die Studierenden performten u. a. Der Abschiedsbrief von Erich Kästner, Erinnerung an die Marie A. von Bertolt Brecht, Chesterfield-Girl von Gerhard Bronner, L’Accordéoniste (Text und Musik von Michel Emer und im Original gesungen von Édith Piaf) sowie Nur nicht aus Liebe weinen von Hans Fritz Beckmann (Text) und Theo Mackeben (Musik), im Original gesungen von Zarah Leander. Lemper spürt nach, hört genau hin. Sie stellt die Aussagen der Texte und Lieder in den Mittelpunkt, die Emotion, klärt sorgfältig den situativ-szenischen Kontext. Jede Persönlichkeit, die etwas vorträgt, erfasst Lemper scheinbar als Ganzes. Äußerliche Gesten, welche den wahren Ausdruck verstellen, werden behutsam reduziert. Im Nachgespräch betont sie: „Das Gefühl auf der Bühne soll möglichst ,echt’ sein.“ Es geht um Offenheit, Verletzlichkeit. Dies entspricht dem Motto Max Reinhardts: „Nicht Verstellung ist die Aufgabe des Schauspielers, sondern Enthüllung.“ Die Musik hatte bei Max Reinhardt einen ausnehmend hohen Stellenwert. Der Gesang sollte in Synergie mit den Fächern Schauspiel, Sprachgestaltung und Bewegung entwickelt werden. Ute Lemper hat einen guten Eindruck davon gegeben, wie dieser Auftrag umgesetzt werden kann. Eine Meisterklasse, die allen Studierenden eine Inspiration war.
Mehr über Ute Lemper und ihren spannenden Künstlerinnenweg ist in ihrer Autobiografie nachzulesen: Ute Lemper: Die Zeitreisende. Zwischen Gestern und Morgen. München: Gräfe und Unzer Edition 2023.