Welche Rolle können Kunst und Kultur bei der Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft spielen? Darüber diskutierten Birgit Huebener (Koordinationsstelle für Nachhaltigkeit und grüne mdw), Tanja Obex (Lehrende am Institut für musikpädagogische Forschung und Praxis) und Annie Ternström (Studierende Gesang).
Denken Sie, dass es möglich ist, Menschen über das „Medium“ Kunst und Kultur für die Themen Klimawandel und Nachhaltigkeit zu sensibilisieren?
Tanja Obex (TO): Auf jeden Fall. Kunst und vor allen Dingen Musik sind in der Lage, Geschichten zu erzählen. Geschichten, die es ermöglichen, die Welt, die Dinge und Relationen darin auf eine bestimmte, vielleicht auch andere Weise zu sehen.
Annie Ternström (AT): Gerade bei schwierigen und komplexen Themen haben viele Menschen eine Scheu, sich damit zu befassen. Wenn man diese Themen allerdings in Verbindung mit Musik oder anderen Kunstformen bringt, kann das dazu führen, dass sich die Leute doch trauen, darüber nachzudenken und sich damit auseinanderzusetzen.
Birgit Huebener (BH): Ich würde den Begriff von Kunst weiter fassen. Mir geht es vor allem um die Kreativität, um dieses Gefühl, dass man etwas bewirken kann, nicht nur als Künstler_in auf der Bühne stehend, auch als Publikum. In der Wissenschaft wird immer mehr ersichtlich, wie sehr das kreative Herangehen der Künste gebraucht wird, um schwierige Inhalte vermitteln zu können. Gleichzeitig denke ich, dass eine künstlerische Herangehensweise prinzipiell schon eine transformative Kraft besitzt.
In welchem Zusammenhang steht Ihrer Meinung nach Ihr heutiges Tun als Musikschaffende oder Lehrende im Kunst- und Kulturbereich mit dem zukünftigen Zustand der Welt? Besitzt Kulturschaffen eine globale Relevanz?
TO: Aus meiner Sicht hat und hatte Kunst und damit auch Musik immer schon eine politische Komponente. Und wenn wir an die aktuelle Situation und die planetare Katastrophe denken, kann Kunst/Musik ihre politische Verantwortung wahrnehmen und auf diese Krise reagieren.
BH: Ich sage jetzt nicht, Musik ist die Sprache, die jede_r versteht, aber ich glaube, dass künstlerische Formate und Herangehensweisen eine Verbindung herstellen können, eine Übersetzung und damit Transformation. Für mich stellt sich auch die Frage: Muss unbedingt die Sprache der Ausgangspunkt für jegliche Überlegungen sein? Können nicht auch künstlerische Äußerungen und Ausdrucksformen als Ausgangspunkt für wichtige Fragen fungieren?
AT: Ich denke, es gibt hier viele Überschneidungen und Synergieeffekte, die dazu beitragen können, Themen zugänglicher zu machen.
TO: Dadurch reduziert sich auch ein bisschen der Stress, dass in der gesamtgesellschaftlichen Wissensproduktion der ganze Druck auf einzelnen Akteur_innen liegt.
BH: Mir wird immer mehr bewusst, dass der Ausgangspunkt für viele künstlerische Ausdrucksformen die Umwelt oder die Natur ist. Hinter Joseph Haydns Die Schöpfung oder Ludwig van Beethovens Pastorale stehen ja verschiedene Naturkonzepte und Vorstellungen aus dieser Zeit, aber auch das eigene Verhältnis der Komponist_innen dazu.
TO: Wenn wir über Natur sprechen, sprechen wir aus der Perspektive unseres westlichen Denkens. Wenn wir über die Klimakrise oder sozialökologische Krisen nachdenken, würde ich sagen: Ein Stück weit ist unser westliches Denken dafür verantwortlich …
BH: … nicht nur ein Stück weit …
TO: … weil wir völlig ausbeuterisch umgehen mit der Natur, mit anderen Menschen. Wenn wir mit unserem westlichen Denken Nachhaltigkeitsinitiativen entwickeln, so tun wir das also mit genau dem Denken, das die Probleme überhaupt erst produziert hat. Das kann nicht funktionieren, wir setzen so diese kolonialen imperialen Praktiken nur fort.
TO: Wenn wir tatsächlich über Nachhaltigkeit sprechen wollen, über eine andere Art zu denken, dann wäre es notwendig, mit gängigen Dualismen wie Mensch und Natur oder Natur und Kultur zu brechen. Der Mensch muss sich selbst als Teil der Natur, und nicht von dieser abgegrenzt, verstehen. Dies müssten wir begreifen. Erst das wäre die Voraussetzung dafür, der „Natur“ nicht fortlaufend immer Schaden zuzufügen.
BH: Das führt genau zur Frage: Wie verstehen wir Kunst? Als etwas Elitäres oder als gemeinschaftliches Tun? Mozart oder Beethoven sind nicht als Genies vom Himmel gefallen, da gibt es immer auch eine Verankerung in einer gesellschaftlichen Struktur. Mir erscheint diese In-Beziehung-Setzung sehr elementar. Dieses kollaborative Tun ist wichtig und Voraussetzung für ein sinnvolles Fortbestehen von Kunst.
Wenn man die mit der Klimakrise in Zusammenhang stehenden Veränderungen als Gestaltungsaufgabe versteht: Welche Rolle können Institutionen wie die mdw bzw. Musikschaffende bei diesem gesamtgesellschaftlichen Wandel spielen?
TO: Wenn ich an die grüne mdw denke, sehe ich eine Reihe von Initiativen, die als nachhaltig bezeichnet werden können. Das betrifft Veranstaltungen genauso wie die tägliche Arbeit an der Universität oder die damit verbundenen Bildungsbemühungen wie z. B. die Lectures for Future oder das Musikschulprojekt Wolkersdorf von Peter Röbke, Hans-Peter Manser und Dietmar Flosdorf. Ich denke, dass sowohl Institutionen als auch Musikschaffende hier eine Vorbildfunktion haben und dass viele auch diese gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen. Gestalten darf dabei jedoch nicht im Sinne von „simple Lösungen anbieten“ verstanden werden, sondern eher als das Anregen von Denk- und Handlungsprozessen angesichts der gegenwärtigen Polykrisen respektive -katastrophen.
AT: Ich denke, es ist ganz wichtig, dass Nachhaltigkeits- und Umweltthemen Teil der Konversation sind. Die mdw ist eine sehr multikulturelle Institution. Das ist toll und schon allein deshalb gibt es unterschiedliche Zugangsweisen, die bei Themen wie diesen eine große Bereicherung sind. Es bietet uns auch die Möglichkeit, unterschiedliche Standpunkte zu verstehen. Ich fände es wichtig, Lehrende in noch stärkerem Maß zu motivieren, diese Themen in die Fächer einfließen zu lassen – vor allem auch in jene, die auf den ersten Blick nichts mit der Klimakrise zu tun zu haben scheinen und wo im Moment kein Wort darüber gesprochen wird.
BH: Ich denke, was es braucht, sind tiefgreifende, strukturelle Veränderungen. Und diese brauchen Raum und Zeit. Mein Motto lautet: Weniger ist mehr. Meiner Meinung nach gelingt Nachhaltigkeit nur über Suffizienz und aus der Überzeugung, dass wir etwas dabei gewinnen und nicht verlieren.
Auf der anderen Seite misst sich Erfolg gerade in der Musikbranche oft an der Anzahl und Ferne der Tourneen. Wie könnte hier ein Umdenken stattfinden?
AT: Das ist eine sehr schwierige Aufgabe. Wenn wir z. B. ein System haben, wo Bahnfahrten teurer sind als Flugtickets, ist es gerade für Studierende, die am Anfang ihrer Karriere stehen, nicht einfach zu sagen: „Ich werde niemals den Flug wählen.“ Auch wenn ich so oft wie möglich versuche, mit der Bahn zu reisen, ist es manchmal, auch wenn ich dafür die Zeit eingeplant hätte, aus finanziellen Gründen einfach nicht möglich. Das beschäftigt mich und führt manchmal zu einem Machtlosigkeitsgefühl, da wir doch, solange wir diese ökonomischen Begrenzungen haben, in diesem System feststecken.
TO: Das ist ein wichtiger Punkt: Nachhaltigkeit besitzt nicht nur eine ökologische und soziale Dimension, sondern auch eine ökonomische. Eine grundsätzliche Forderung, wenn es um Nachhaltigkeit geht, lautet, dass diese drei Dimensionen ausbalanciert werden sollen. Wenn ich mir aber verschiedene Initiativen ansehe, habe ich den Eindruck, dass die ökonomische Ebene immer die entscheidende ist. Das Potenzial ökologischer und sozialer Transformationen wird dann am Ausmaß des wirtschaftlichen Wachstums gemessen. Das sehe ich als eines der Hauptprobleme, wenn wir über Nachhaltigkeit und Transformation sprechen.
BH: Transformation muss im Kopf beginnen. Es braucht ein Umdenken bei den großen Fragen – beim imperialen Lebensstil, bei der Auffassung, es gäbe keine Wirtschaftlichkeit ohne Wachstum etc.
Frau Ternström, Sie sind Studienvertreterin für Gesang und Musiktheaterregie. Wie ist Ihr Eindruck: Ist Nachhaltigkeit bei Ihren Kolleg_innen ein Thema?
AT: Das ist sehr unterschiedlich. Viele sind auf der Schiene: „Ich muss so schnell wie möglich das Studium abschließen und zu arbeiten beginnen, Karriere machen“, weil man sehr stark in diesem Leistungssystem verankert ist. Aber es gibt auch viele, die z.B. in ihrer Ernährung auf Fleisch verzichten und man diskutiert über sozialökologische Themen. In meiner Generation gibt es auch ein größeres Bewusstsein, wie wichtig mentale Gesundheit ist. Das Thema ist nicht mehr so tabu wie früher, denn wir müssen ja auch mit uns selbst nachhaltig umgehen.
TO: Mir fällt auf, dass junge Leute im Hinblick auf Nachhaltigkeit ganz andere Zugangsweisen haben, als wir es hatten. Beispielsweise ihr Engagement bei Fridays for Future, ihre Argumente, auch wie auf Intersektionalität hingewiesen wird.
Abschließend ein Blick in die Zukunft: Wie könnte eine positive Zukunftsvision Ihres Tätigkeitsbereichs aussehen? Welche Ziele könnten oder sollten in den nächsten Jahren erreicht werden?
AT: Schön wäre es, Räume zu schaffen, wo Leute aufeinandertreffen und in Ruhe diskutieren können. – Das würde ich gerne anregen. Dann hoffe ich, dass sich die Musiker_innenbranche so verändert, dass man für die Anreise mehr Zeit bekommt, um zumindest innerhalb von Europa nicht mit dem Flugzeug unterwegs sein zu müssen. Es stellen sich auch Fragen wie: Muss man bei jedem Konzert ein anderes oder neues Kleid tragen? Nein, man kann sehr gut vintage oder secondhand kaufen, was ich persönlich auch originell finde, und auch dieselben Outfits mehrmals tragen.
BH: Ich träume auch von einem Raum, wo es Dialog und Austausch gibt, egal ob dieser dann real oder digital ist. Was mir ganz wichtig ist, ist das Vernetzen, das Suchen und Finden von Synergien, Dinge, die ohnehin schon irgendwo sind, zu unterstützen und nicht zusätzlich etwas Neues zu erfinden. Für mich wäre es eine positive Version der Zukunft, die Hektik, das Tempo aus unserem Arbeitsalltag rauszunehmen. Ich habe ganz bewusst auf 25 Stunden reduziert, versuche ein bisschen dieses „weniger ist mehr“ vorzuleben, weil ich davon überzeugt bin, dass es ein Beitrag zur Nachhaltigkeit ist. Außerdem fände ich es wichtig, das Verhältnis zur Arbeit ganz neu zu denken.
TO: Ich glaube, mit diesem bewusst langsamer Schalten und Reduzieren kann ich gut mitgehen, das kennzeichnet auch meine Arbeitsweise. Noch ein Aspekt, der mir wichtig erscheint: Ich sehe es als meine Aufgabe, sowohl in meinem wissenschaftlichen Tun als auch in meiner Lehrtätigkeit anstelle des Gefühls der Ohnmacht – im Sinne von „es ist ohnehin schon alles zu spät“ – Aspekte wie Hoffnung zu thematisieren. Hoffnung so verstanden, sich der gegenwärtigen Gefahren bewusst zu sein und zugleich eine Vorstellungskraft über ein gutes Leben zu entwickeln. Das führt uns wieder zum Beginn dieses Gesprächs: Für mich wäre es wichtig, Studierende terrestrisch zu bilden, und ich meine damit eine Bildung, die es den Einzelnen ermöglicht, sich verbunden mit der Welt zu erfahren, als untrennbaren Teil der Natur zu begreifen. Erst wenn das in uns angekommen ist, kann es zu einer Selbstverständlichkeit werden, die Ausbeutung von Natur, von anderen Existenzen zu beenden – und dann könnten wir tatsächlich von einer sozial-ökologischen Transformation sprechen.