Die Dringlichkeit eines Wandels menschlichen Verhaltens angesichts der unmittelbaren und langfristigen Gefahren des Klimawandels stellt uns auch im Bereich der Artistic Research vor die Frage, was für Konsequenzen dies für unsere Praxis und deren Inhalte hat. Es lassen sich hierbei verschiedene Strategien beobachten: Man kann z. B. den CO2-Fußabdruck von künstlerisch forschenden Aktivitäten berechnen und entsprechend das „Wie?“ verändern, ohne den Inhalt – also das „Was?“ – infrage zu stellen. Dies mag verdienstvoll sein, allerdings sind Künstler_innen und Kunstforschende nicht unbedingt Expert_innen darin. Sie wären hier Anwender_innen von Wissen aus anderen Fachdisziplinen. Ein tiefer gehender Ansatz wäre, sich inhaltlich mit Natur und Klimawandel zu befassen. Tatsächlich lässt sich nicht leugnen, dass die Anzahl von Kunstprojekten, die die Natur in einen künstlerischen Kontext bringen, massiv zunimmt. Pflanzen werden z. B. mit Sensoren bestückt und sind dann Teil musikalischer Aufführungen oder künstlerischer Ausstellungen. Doch ist dieser Import von (ein wenig) Natur in einen künstlerischen Raum (Konzertsaal, Ausstellungshalle) notwendigerweise für das Objekt des Imports gedeihlich? Hier geht es wohl primär um Anregung zur Reflexion über Natur. Dies mag bedeutsam sein, doch lässt sich nur schwer der Eindruck vermeiden, dass Natur hier „benützt“ wird, durchaus in Analogie zur Verwendung „exotischer“ Instrumente/Elemente in europäischer Kunstmusik. Wenn wir also im Bereich transkultureller Kunstprojekte eine ethnomusikologisch informierte Praxis einfordern 5, müsste man dem Import von Natur in Kunst nicht mit ebensolcher Haltung begegnen? Sollten wir nicht noch tiefer gehen und uns noch mehr Wissen über die „Natur“ aneignen?
Deshalb: Der Bereich, wo Künstler_innen die stärkste Kompetenz aufweisen, ist die Frage der (Re-)Definition ihrer eigenen Disziplin. Wie Bruno Latour (2015) zeigt, bedingen die Begriffe Natur und Kultur einander wechselseitig, weshalb er den Begriff der „NaturKultur“ vorschlägt, welcher die Untrennbarkeit in biophysikalisch und gesellschaftlich geformten Beziehungen anerkennt6. Der folgende Entwurf von Fragestellungen könnte Ausganspunkt sein, um sich einer sympoietischen (Haraway 2016) künstlerischen forschenden Praxis anzunähern. Schaffen wir es so, mit künstlerischer Forschung vom Anthropozän in das Symbiozän7 zu kommen?
- Was für Konsequenzen hat es, wenn wir die Begriffe Natur und Kultur (Latour 2015) als wechselseitig bedingt betrachten, und akzeptieren, dass die Natur in den Menschen hineinreicht8? Können wir die angebliche Überlegenheit des Menschen gegenüber Nicht-Menschen hinter uns lassen? Wenn ja, wie?
- Können wir in dem Bewusstsein agieren, dass jede Art auf diesem Planeten in ständiger Wechselwirkung mit einer großen Anzahl anderer Arten steht, dass ihre bloße Existenz einander bedingt? Was ändert sich, wenn wir biologische Evolution nicht als das Überleben des Stärkeren verstehen, sondern das als Überleben der Passenden in wechselseitigen Abhängigkeiten?
- Wie können wir die irreführende Denkweise des Industriezeitalters (sowohl hinsichtlich biologischer als auch technologischer Evolution) überwinden, in welcher überall linearer Fortschritt angenommen wird?
- Für wen wären diese Fragestellungen relevant? Kann man annehmen, dass die durch technische Entwicklung maximierte menschliche Beeinflussung der Biosphäre („Anthropozän“) alle Menschen und Nicht-Menschen gleichermaßen betrifft? Sollte deshalb die Bewältigung des Problems und die Suche nach neuen Beziehungen zwischen ALLEN Bewohner_innen der Biosphäre, jedenfalls für alle Menschen, relevant sein – unabhängig von Nationalität, Kultur, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht und Wohlstand?
- Wie können Künstler_innen beitragen? Können wir eine nachhaltige Vorgangsweise entwickeln, indem wir anthropozentrische Räume verlassen oder zumindest hinterfragen? Muss Kunst künstlich sein? Könnte eine Kunst, welche die Notwendigkeit hinterfragt, selbst nicht-natürlich (künstlich) zu sein, zu jenen Veränderungen von Denkweisen und Wertesystemen beitragen, die für nachhaltige/ausgewogene Beziehungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen erforderlich sind? Kann das Zuhören, Erforschen, Infragestellen und Neukonfigurieren der vermeintlichen Demarkationslinie zwischen Natur und Kultur bzw. Kunst zu neuen NatureCulture Art Practices führen, ohne die Natur zu romantisieren?
- Wie könnte man solche NatureCulture Art Practices umsetzen? Können in Anlehnung an die transkulturelle künstlerische Forschung NatureCulture Art Practices auf wechselseitig befruchtenden Interaktionen zwischen Menschen und Nicht-Menschen beruhen? Was ergibt sich daraus, wenn die Feldforschung aus der Ethnomusikologie auf Nicht-Menschen ausgeweitet wird? Welche Expert_innen würden dafür benötigt werden, Biolog_innen, Ökomusikolog_innen, indigene/lokale Gemeinschaften mit situiertem Wissen? Können Tabus/lokale Traditionen die Erfahrung und das Wissen aus jahrhundertelangen Interaktionen zwischen Menschen und Nicht-Menschen sowie Wege zum Ausgleich zwischen beiden beinhalten? Kann ein Dialog zwischen verschiedenen Ontologien und Wertesystemen geschaffen werden, als Voraussetzung für gründliche und unvoreingenommene Beobachtung? Wären spezielle Geräte förderlich, welche Wahrnehmung jenseits menschlicher Sinne erlauben (Ultra- oder Infraschall, Ultraviolett, Infrarot). Welches Bewusstsein für nicht-menschliche Zeitmaßstäbe (Zeitraffer/Zeitlupe) müssten NatureCulture Art Practices erfordern? Wie langsam und vorsichtig sollte der Schritt von Beobachtung zu Interpretation und Aktion erfolgen? Wie kann man Bereiche, in denen Künstler_innen NatureCulture Art Practices nicht-invasiv entwickeln, behutsam identifizieren?
Auf jeden Fall lohnt es sich, diesen Fragen nicht aus dem Weg zu gehen.
- Siehe www.mdw.ac.at/creativemisunderstandings und www.mdw.ac.at/magazin/index.php/2019/11/29/kreative-missverstaendnisse-methodologien-der-inspiration
- vgl. Fuentes 2010, Haraway 2003.
- vgl., Albrecht, Glenn A.; Van Horn, Gavin: Exiting the Anthropocene and entering the Symbiocene, 2016. humansandnature.org/exiting-the-anthropocene-and-entering-the-symbiocene
- Punkt 2 bis 4 basieren zum Teil auf Rupert Riedel, Evolution und Erkenntnis. Piper 1982, und Rupert Riedl: Zeus, Darwin und Russels Huhn. K&S 1994.