Einblicke in das Symposium GOING VIRAL
Am 8. November 2024 öffnete das European-Research-Council-Projekt GOING VIRAL: Music and Emotions during Pandemics (1679–1919) mit dem Symposium Music – Emotions – Pandemics: Interdisciplinary Perspectives seine Pforten für die Öffentlichkeit. Wissenschaftler_innen aus den unterschiedlichsten Bereichen, wie z. B. politischer Soziologie, Krankenhausarchitektur, Popmusikforschung, (Musik-)Geschichte, Musiktherapie und Vakzinologie diskutierten die Zusammenhänge zwischen Musik, Emotionen und Pandemien. Die Aktualität des Themas war von Anfang an spürbar, denn eine Vortragende musste aufgrund eines positiven Covid-Tests absagen – ein Zeichen dafür, dass die Pandemie noch immer nicht vollständig abgeklungen ist. Trotz dieser Absage brachte der interdisziplinäre Geist des Symposiums eine bemerkenswerte Synergie hervor, wobei sich zwei übergreifende Themen als besonders zentral herausstellten: die zeitliche Dimension von Pandemien und die Rolle von Technologien in der Vermittlung von Pandemieerfahrungen1.
Zeitlichkeit: Vielschichtigkeit von Pandemie-Erfahrungen
In seinem anschaulichen Vortrag über Pandemievorsorge untersuchte der bekannte Pandemieexperte Florian Krammer die Zukunft: Was zu erwarten ist und wann und wie man sich am besten vorbereitet. Dabei zeigte er überzeugend, dass Pandemien für verschiedene Menschen zu unterschiedlichen Zeiten enden (und beginnen) können. Die Dreiteilung in Prä-Covid, Covid-19 und Post-Covid erwies sich als ein zu einfacher Ansatz, um die Zeitlichkeit von Pandemieerfahrungen zu erfassen. Krammers Erkenntnisse unterstrichen die Notwendigkeit eines nuancierteren Verständnisses der zeitlichen Entwicklung von Pandemien, das die Vielfalt individueller und gemeinschaftlicher Erfahrungen berücksichtigt.
Diese Komplexität spiegelte sich in Scott Edwards’ Beitrag zum Wien des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts wider, wo jährliche Gedenkfeiern zur Erinnerung an die Große Pest von 1679 noch lange nach ihrem Ende stattfanden. Diese Rituale demonstrierten die Stärkung der Pandemiezeit durch Akte der Erinnerung und des Musizierens, die sowohl als eine Form der kollektiven Heilung dienten als auch als Mittel, um die Erinnerung an die Krise in die kulturelle Praxis einzugliedern.
Marie Louise Herzfeld-Schild, Leiterin des Projekts GOING VIRAL, erweiterte die Diskussion durch ihre Darstellung der komplexen Rolle des Glockenläutens während frühneuzeitlicher Pestausbrüche. Das Glockenläuten hatte unterschiedliche Funktionen, von Zeitstrukturierung und Gefahrenmeldung über Totenanzeige bis hin zu Kommunikation mit Gott. Darüber hinaus war es Teil der medizinisch-spirituell-bürgerlichen Maßnahmen, um die Pest zu vertreiben, indem es die giftige Luft über der Stadt auflockern sollte.
Technologie: Vermittlung von Pandemie-Erfahrungen
Ein weiteres zentrales Thema des Symposiums war die Bedeutung von Technologien für die Gestaltung von Pandemieerfahrungen. In einer gemeinsamen Präsentation erkundeten die Mitglieder des GOING-VIRAL-Teams Sara Ebrahimi, Emma Schrott, Mark Seow und Aria Torkanbouri verschiedene Technologien, von Küchenutensilien bis hin zum eigenen Körper – wie z. B. Händeklatschen – während der Lockdowns 2020 in Großbritannien. Schrott zeigte in ihrem Beitrag, wie das Grammophon während der Spanischen Grippe im frühen 20. Jahrhunderts die Hörgewohnheiten und die Erfahrung von „Innerlichkeit“ veränderte, und schlug damit ein spannendes Umdenken der frühen Geschichte von Tonträgern vor.
Auch während der Corona-Pandemie konnte das isolierte Musikhören während des Lockdowns zu Erfahrungen von Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft führen: Hannah Riedl teilte ihre vielschichtigen Erfahrungen mit dem musiktherapeutischen Online-Angebot „My Favourite Song“ während der Corona-Pandemie, während Ralf von Appen und Jonas Kastenhuber Taylor Swifts „Pandemie-Alben“ Folklore und Evermore untersuchten. Ihre Analyse von Swifts komplexen und unvorhersehbaren musikalischen Strukturen zeigte, wie diese Elemente die Aufmerksamkeit der Fans fesseln und ein Gefühl der Gemeinschaft durch Musikhören in Isolation fördern konnten.
Schlussbemerkung: Ein Dialog über Fächergrenzen hinweg
Das Symposium war ein voller Erfolg und förderte einen fruchtbaren Dialog zwischen Wissenschaftler_innen und Institutionen. Es zeigte, dass Pandemien nicht nur medizinische Phänomene sind, sondern tief in soziale, historische und emotionale Kontexte eingebettet. Die interdisziplinären Erkenntnisse können sowohl unser Verständnis historischer als auch aktueller Pandemien bereichern, und sie bieten auch der Musikwissenschaft neue Perspektiven.
Beim abschließenden Abendessen wurden die Gespräche angeregt weitergeführt, was die nachhaltige Resonanz der diskutierten Fragen verdeutlichte. Damit unterstrich das Symposium nicht nur die anhaltenden Auswirkungen von Pandemien auf die Erfahrungen der Menschen, sondern auch die Kraft kollektiver wissenschaftlicher Forschung, die Komplexität gemeinsamer Geschichte(n) zu beleuchten.
- Die in diesem Beitrag genannten Vorträge stellen nur einen Ausschnitt des gesamten Programms dar. Weitere Informationen zu allen Vorträgen des Symposiums finden sich unter: goingviral.hypotheses.org/our-own-events. Diese Veranstaltung war Teil des GOING-VIRAL-Projekts, das vom European Research Council (ERC) im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms Horizon Europe der Europäischen Union finanziert wird (Grant agreement No. 101040297).