1.2 Theorie und Methode


Unterkapitel

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Die Grenzen des Sagbaren: der Diskursbegriff

In Zusammenhang mit dem Diskursbegriff liegt ein Rekurs auf Michel Foucault auf der Hand. Dieser sieht den Gegenstand der Diskursanalyse durch Aussagen konstituiert, die durch ihre Wiederholung und Gleichförmigkeit über Zeit- und Textgrenzen hinweg charakterisiert sind.40 Der Diskurs bestimmt die Grenzen des Sagbaren, er legt fest, welche Aussagen in einem bestimmten Rahmen möglich sind:

Die Beschreibung der diskursiven Ereignisse stellt eine völlig andere Frage [als die der Sprache, Anm. d. Verf.]: wie kommt es, daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle? Man sieht zugleich, daß diese Beschreibung des Diskurses sich in Gegensatz zur Geschichte des Denkens stellt.41

Nach Foucault geht es der Diskursanalyse also nicht um das Aufspüren einer verdeckten Wirklichkeit hinter den Aussagen. Im Gegensatz zur Hermeneutik ist es nicht ihr Ziel, zur Intention der Autor*in vorzudringen – Gegenstand ist lediglich die Menge der Aussagen in Form ihrer textlichen Materialisierungen. Auch im Rahmen dieser Arbeit liegt der Fokus nicht auf dem Bewusstsein der Subjekte hinter den Äußerungen, sondern auf Denkfiguren, die sich über die Jahre hinweg in Texten unterschiedlicher Autor*innen behaupten und gemeinsam eine diskursive Wirklichkeit konstituieren. Solche ›Topoi‹ fasst Hubert Knoblauch in Anlehnung an Ernst Robert Curtius als »feststehende Redeweisen, konstante Motive, verfügbare und stereotype Denkmodelle sowie Klischees.«42 Der Toposbegriff kann als Leitbegriff bei der Analyse von Diskursen dienen.43 Im Zentrum der Diskursanalyse steht – so Andreas Domann mit Verweis auf Dietrich Busse und Wolfgang Teubert – ein »Textkorpus, dessen ›Zusammensetzung durch im weitesten Sinne inhaltliche (bzw. semantische) Kriterien bestimmt wird‹.«44 Diese Kriterien umfassen semantische Beziehungen und wechselseitige Verweise zwischen den Texten sowie einen gemeinsamen Gegenstand und Kommunikationszusammenhang.45

Der Diskurs als Teil des Sozialen: Critical Discourse Analysis

Bekanntlich zielt die Foucault’sche Diskursanalyse auf weit mehr als nur sprachliche Äußerungen: So spricht Foucault auch von »Institutionen, Praktiken, Techniken und von ihnen [den Menschen, Anm. d. Verf.] hergestellten Objekten«46 als Bestandteilen des Diskurses. In Bezug auf eine Denkweise, die selbst noch die materielle Realität als Resultat von Diskursen ansieht, sprechen Kritiker*innen von einem ›Diskursidealismus‹, der die soziale Wirklichkeit nicht wie der traditionelle Idealismus als gedankliches, dafür aber als diskursives Konstrukt betrachte.47 Im Gegensatz dazu definiert die ›Critical Discourse Analysis‹ (CDA) in der Ausformulierung von Lilie Chouliaraki und Norman Fairclough »discourse […] as an element of social practices, which constitutes other elements as well as being shaped by them«48. Fairclough und Chouliaraki sehen den Diskurs – in Anlehnung an Bhaskars ›kritischen Realismus‹49 – also nur als eine unter vielen Dimensionen des menschlichen Lebens, die einander wechselseitig beeinflussen, wobei keine Ebene als absolute Determinante fungiert.50 Die CDA bietet somit die Möglichkeit, einen diskurstheoretischen Ansatz mit einer Theorie der Praxis in einem sozialen Feld zusammenzudenken. Soziale und diskursive Strukturen beeinflussen sich in dieser Sichtweise gegenseitig, ohne dass die einen aus den anderen ableitbar wären.51 Diskurs versteht die CDA als sprachlich artikulierte Form sozialer Praxis, die darüber hinaus noch weitere Elemente wie etwa »social relations, power, material practices, beliefs/values/desires, and institutions/rituals«52 umfasst. Wie Ruth Wodak ausführt, kommt infolgedessen der Analyse des Kontexts – und dabei vor allem der sozialen Verhältnisse, in die ein Diskurs eingebettet ist – innerhalb der CDA besondere Bedeutung zu:

A fully »critical« account of discourse would thus require a theorization and description of both the social processes and structures which give rise to the production of a text, and of the social structures and processes within which individuals or groups as social historical subjects, create meanings in their interaction with texts.53

Ebenso wie die sozialen Strukturen begreift die CDA auch den Diskurs als von Machtverhältnissen durchdrungen.54 Für Fairclough und Wodak sind Diskurse insofern, als sie diese Machtverhältnisse unsichtbar machen und damit zu ihrer Aufrechterhaltung beitragen, als ideologisch zu betrachten.55 Es gehört zum Anspruch der CDA, diese ideologischen Konstruktionen offenzulegen.56 In diesem Sinn lässt sich die Vorgehensweise der CDA als ideologiekritisch verstehen.

Indem die CDA das Ziel verfolgt, die impliziten Annahmen der Diskursteilnehmer*innen transparent zu machen, verhält sie sich nicht unparteiisch, sondern bezieht innerhalb der von ihr beschriebenen Machtbeziehungen Position. Ausgehend von Roy Bhaskar sehen es Chouliaraki und Fairclough als Ziel kritischer Sozialwissenschaft, nicht nur soziale Praktiken, sondern auch die unausgesprochenen ›Proto-Theorien‹ oder unreflektierten Vorannahmen, die ihnen zugrunde liegen, zu analysieren. Im Rahmen dieser Arbeit bedeutet dies, die sprachlichen Äußerungen Lachenmanns und seines diskursiven Umfelds in Rückkoppelung zum soziokulturellen Rahmen zu untersuchen, in dem sie erfolgen. Angelehnt an Fairclough und Chouliaraki verstehe ich den Diskurs über ›neue Musik‹ daher als Spiegel realer Machtverhältnisse und ‑kämpfe.

Verschiedentlich nehmen die Vertreter*innen der CDA auf Pierre Bourdieu Bezug – so etwa in der Adoption des Bourdieu’schen Feldbegriffs.57 Chouliarakis und Faircloughs Konzeption des Lebens als soziale Praxis, die sowohl von Strukturen beeinflusst wird als auch die Transformation dieser Strukturen bedingt, lässt sich zudem mit der vom »konstruktivistischen Strukturalismus«58 geprägten Sozialraum­theorie Bourdieus verbinden.59 Eine Verwandtschaft zu dessen Denkgebäude ist auch in der Auffassung von Theoriearbeit als einer spezifischen Form der Praxis zu bemerken – eine Verbindung, die bereits bei Adorno vorgezeichnet ist und auch in der vorliegenden Arbeit in der Verortung des Diskurses im sozialen Feld der ›neuen Musik‹ fruchtbar gemacht werden soll.60

Auf der CDA beruhende Forschungszugänge kommen bislang vor allem in den Sozialwissenschaften zur Anwendung, während sich innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften stärker an Foucault ausgerichtete Ansätze etabliert haben.61 Ein Überblick über die Verbreitung diskursanalytischer Zugänge innerhalb der Disziplin steht für den Bereich der Musikwissenschaft noch aus. Insgesamt ist festzustellen, dass diskursanalytische Zugänge hier zwar präsent sind, im Vergleich zu anderen Disziplinen bislang aber eine untergeordnete Rolle spielen.

Musik als soziale Praxis

Den folgenden Überlegungen liegt ein Verständnis von Musik als sozialer Praxis zugrunde.62 Begründet ist dieser Zugang in der pragmatistischen Philosophie, die auf eine Enthierarchisierung und ‑sakralisierung von Kunst zielt und diese in der alltäglichen Lebenserfahrung verortet.63 Aufbauend auf diesen Konzepten soll ›neue Musik‹ in der Folge als Spezialfall westlicher Kunstmusik verstanden werden, der nicht nur Ausdruck einer bestimmten Teilkultur – also einer Interaktions‑, Kommunikations- und Lebensform – ist und von Werten wie Innovation, Komplexität oder Ernsthaftigkeit getragen wird, sondern auch in sozialen Verhältnissen begründet liegt, die durch Macht und materielle Unterschiede geprägt sind. Dabei ist anzuerkennen, dass sich im 19. Jahrhundert im Kontext der europäischen bürgerlichen Kultur und Gesellschaft eine Sondersphäre der Kunst herausbildete, die als autonom und vom Bereich des Alltags und des Produktionsprozesses geschieden gedacht wird. Obwohl dieser Autonomie aufgrund ihrer diskursiven Konstitution jedenfalls eine Teilwirklichkeit einzuräumen ist, vollzieht sich auch die westliche Kunstmusik – und damit die ›neue Musik‹ – im sozialen Geflecht und in einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft.

Musikalische Bedeutung ist diesem Verständnis nach den Werken nicht inhärent, sondern die Folge von Zuschreibungen, die aus einem kulturellen Verständigungsprozess hervorgehen. In Zusammenhang mit dem hier untersuchten Diskursausschnitt sind insbesondere die Zuschreibungen politischer Bedeutung von Interesse, die sich in einer Häufung politischer Rhetorik und Metaphorik manifestieren. Die CDA bietet sich als Mittel an, den diskursanalytischen Ansatz mit einer soziologischen Perspektive zu verbinden.

Aufgrund der Notwendigkeit, der linguistischen Analyse eine Untersuchung der sozialen Situation an die Seite zu stellen, spricht Wodak auch von einer besonderen Affinität der CDA zur Interdisziplinarität.64 In diesem Sinn versteht sich die vorliegende Diskursanalyse als lediglich ein Baustein in einem Gefüge, zu dessen Vervollständigung es auch im engeren Sinn musikanalytischer Studien sowie einer empirisch ausgerichteten soziologischen Analyse bedürfte. Unter dem Blickwinkel von Musik als sozialer Praxis bietet es sich insbesondere an, das Modell der CDA mit praxistheoretischen Zugängen zu verbinden.

Ihr Kritikverständnis rückt die CDA in ein Naheverhältnis zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, das in dem Streben nach Aufklärung und Emanzipation zum Ausdruck kommt und in den verschiedenen Ansätzen unterschiedlich stark ausgeprägt ist.65 Während den hier verfolgten Forschungsansatz sein kritisches Erkenntnisinteresse ebenfalls mit der Philosophie der Frankfurter Schule verbindet, unterscheidet sich das Musikverständnis grundlegend von einem produktionsästhetischen Ansatz, für den etwa Theodor W. Adorno steht.

Endnoten