3.3 Luigi Nono



Handelt es sich bei Lukács und Adorno um Philosophen, bei deren Musikdenken Lachenmann mehr oder weniger explizite Anleihen genommen hat, so haben wir es bei Luigi Nono hingegen mit einem Komponisten zu tun, dessen Einfluss auf den jungen Lachenmann entsprechend andere Formen annahm. Lachenmann war von Herbst 1958 bis Frühling 1960 (mit einer Unterbrechung) Nonos Privatschüler in Venedig.127 Dieses Lehrer-Schüler-Verhältnis hat Rainer Nonnenmann in der Monografie Der Gang durch die Klippen umfassend aufgearbeitet. Wie Lukács Marxist, hat Nono Lachenmann vor allem während dieser zwei Jahre in nicht zu über­schätzender Weise musikalisch, menschlich und politisch geprägt. Insgesamt war der ältere Komponist zwischen 1957, als der 21-jährige Lachenmann in Darmstadt seine Bekanntschaft machte, und seinem Tod im Jahr 1990 ein zentraler Anknüpfungspunkt (und mitunter auch Reibebaum) für Lachenmanns Denken und kompositorische Entwicklung.128

Seine Studienjahre in Venedig waren für Lachenmann mit einem Politisierungs­schub verbunden: »Ich konnte als Kind niemals so politisiert sein, wie sich das dann später, nicht erst seit meinem Studium bei Nono, doch noch ergeben hat.«129 Dennoch war das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler insbesondere auf politischer Ebene von Beginn an von Konflikten gekennzeichnet. Über deren Ursachen bemerkt Lachenmann 1993: »Ich war schließlich kein Marxist, sondern eher religiös eingestellt – dabei voll von Zweifeln an allem.«130 Folglich kam es nach Lachenmanns Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1960 zu einer allmählichen Entfremdung zwischen den Komponisten, die durch politische Meinungsverschiedenheiten ebenso bedingt war wie durch Lachenmanns Bestreben, sich ästhetisch von der übermächtigen Vorbildwirkung des Lehrers zu emanzipieren. In dessen letzten Lebensjahren kam es indes zu einer Wiederannäherung, die schließlich in einer Freundschaft mündete.

Lachenmanns erster Text über Nono stammt aus einer Zeit, als der Kontakt zu dem ehemaligen Lehrer über Streitigkeiten ein vorläufiges Ende gefunden hatte. Dennoch ist der Aufsatz »Luigi Nono oder Rückblick auf die serielle Musik« aus dem Jahr 1971 von Respekt getragen. In der historischen Konstellation der späten 1960er-Jahre, als sich das politische Bekenntnis des Kommunisten Nono als Hindernis bei der Verbreitung seiner Werke in Westdeutschland erwies, klingt bei Lachenmanns Äußerungen das Bedürfnis an, seinen Lehrer gegen Anfeindungen in Schutz zu nehmen:

Spätestens aber zu Beginn der sechziger Jahre bekam Nono von der westdeutschen Öffentlichkeit – nicht nur von ihr – zu spüren, daß sie genug von der Linkskoketterie hatte und sich nicht in ihrem restaurativen Weg irritieren lassen wollte von einem, dem es über einen Allerweltshumanismus hinaus Ernst mit dem Sozialismus war.131

Tenor seiner Äußerungen über Nono ist stets Achtung vor dessen künstlerischer und persönlicher Integrität, die ihn – entgegen jeder Kritik an seinen vermeintlichen musikalischen Anachronismen – weit über seine Kritiker*innen erhebe.132 Was Nonos Bekenntnis zum Kommunismus angeht, enthält sich Lachenmann in diesem Text einer Wertung, indem er die Emphase immer wieder auf andere Aspekte verschiebt – etwa auf Nonos künstlerische Konsequenz oder die Konvergenz von politischem und ästhetischem Anspruch. Den Affront, den Nonos kommunistische Einstellung für den westdeutschen Mainstream darstellte, spielt Lachenmann herunter, indem er die ästhetische Position des Venezianers als eigentlichen Stein des Anstoßes beschreibt:

Provozierender als die von ihm selbst an seine Musik gehefteten Schlagworte ist demnach seine ästhetische Aktualität. Nonos Musik ist eben nicht einfach irgendeine Akklamation, sie ist nicht ideologisch nach jedweder Richtung verwendbar, sie ist nicht nur Ausrufungszeichen hinter vertauschbaren Bekenntnissen, sie ist selbst Bekenntnis und politisch im gleichen Maß wie ästhetisch konsequent. Einer ernsthaften Kritik an Nono kann es meines Erachtens nur darum gehen, Nonos Musik vor dessen eigenen Ambitionen in Schutz zu nehmen, in denen künstlerische und politische Probleme immer wieder Gefahr laufen, sich gegenseitig zu verharmlosen. Die bloße Vertonung von Schlagworten und ideologischen Programmen kann nie gesellschaftsverändernd wirken […].133

Mit der Aussage, der einzige Kritikpunkt an Nonos Komponieren würde in der gegen­seitigen Verharmlosung künstlerischer und politischer Probleme bestehen, kehrt Lachenmann den Zielpunkt der herkömmlichen Kritik um, indem er Nono nun sogar als zu wenig radikal erscheinen lässt. Ohne Nono seine mitunter plakativen Bekenntnisse anzukreiden, definiert Lachenmann – rhetorisch geschickt – das Rühren an ästhetische Tabus als eigentlich radikale künstlerische Handlung. Damit positioniert er nicht nur seinen eigenen ästhetischen Ansatz als konsequente Weiterführung und Über­windung des Nono’schen Komponierens, sondern stellt auch Nonos expliziten Kommunismus als Nebenschauplatz dar und entzieht ihn somit der Kritik, ohne ihn verteidigen zu müssen.

Dass Lachenmann grundlegende ästhetische Haltungen im Dialog mit Nono entwickelt hat, kommt – ungeachtet der persönlichen Entfremdung – auch in dem Text von 1971 zum Ausdruck. Seine auf den Lehrer gemünzte Aussage »Im satz­technischen Detail verrät sich für ihn der ideologische Standort des Komponisten und der Gesellschaft, der dieser sich verpflichtet weiß«134 findet ihr Echo in einer Äußerung, die Lachenmann zwei Jahre später tätigt – diesmal jedoch nicht in Bezug auf Nono, sondern sich selbst: »Im kompositorischen Detail und seiner Beziehung zum Werk verrät sich der ideologische Standort einer Musik.«135

Auch in seinem zweiten ausgedehnten Text über Nono, der auf einen Vortrag anlässlich von dessen einjährigem Todestag im Jahr 1991 zurückgeht, lenkt Lachenmann die Aufmerksamkeit weg von der politischen und hin auf die ästhetische Radikalität seines Lehrers – bzw. auf die Verbindung zwischen beidem: »Das entschei­dende Ärgernis aber war seine Weigerung, sein ästhetisches Bekenntnis vom politischen zu trennen.«136 Wie bereits 20 Jahre zuvor vermeidet Lachenmann auch hier ein ausdrückliches Urteil über Nonos Kommunismus. Dass er diesen als ›Heilslehre‹ apostrophiert und auf eine Stufe mit dem Christentum stellt, verweist dennoch auf eine gewachsene Distanz gegenüber ›großen Erzählungen‹, die den postideologischen 1990er-Jahren angemessen erscheint:

Es ist schwer, vielleicht unmöglich, der politisch-ideologischen Standortbestimmung des Resistenza-Mitglieds und Kommunisten Nono und ihrer Dynamik im Lauf der Jahre […] gerecht zu werden. So wenig wie in einer Gesellschaft der macht- und profitorientierten Heuchelei und zynischen Trägheit gegenüber den Bedrohungen und sozialen Katastrophen auf dieser Erde ein schnelles Urteil über den idealistisch-utopischen Aspekt welcher Heilslehre auch immer, sie heiße Kommunismus oder Christentum, gefällt werden kann, so wenig läßt sich über Nonos politischen Standort anders als respektvoll befinden […].137

Der ausdrücklich respektvolle Grundton dieser Einschätzung ist dem Gedenkcharakter der Veranstaltung wohl ebenso geschuldet wie dem freundschaftlichen Charakter, den Lachenmanns Beziehung zu seinem Lehrer in dessen letzten Lebensjahren angenommen hatte.

Die Lehrzeit bei Nono als Schule des Politischen: Lachenmann und die Linke

Welche Bedeutung Nono für Lachenmanns politisches Selbstverständnis zukommt, zeigt sich unter anderem daran, dass Lachenmann besonders häufig in Zusammen­hang mit seinem Lehrer auf die Sphäre des Politischen zu sprechen kommt. Insgesamt geht er – ganz im Sinn eines Kritischen Komponierens – jedoch auf Distanz zu einer im unmittelbaren Sinn eingreifenden Kunst. Anders als in der engagierten Literatur eines Jean-Paul Sartre oder Walter Jens bildet das Politische im Diskurs um das Kritische Komponieren somit keine explizite Zentralkategorie – diese Rolle wird vielmehr vom Begriff des Kritischen bzw. der Gesellschaftskritik eingenommen.138 Dennoch lässt sich diese Trennung – hier politisch engagierte Musik, dort musikalische Gesellschaftskritik – bei einer eingehenden Lektüre der Texte nicht aufrechterhalten: Der Diskurs umfasst auch im engeren Sinn politische Aussagen, aus denen sich die Selbstverortung der Protagonist*innen des Kritischen Komponierens ableiten lässt. Diese Aussagen, die hier beispielhaft anhand der Texte Lachenmanns nachgezeichnet werden, stehen am Anfang einer Erkundung der politischen Dimensionen des Kritischen Komponierens.

Trotz Lachenmanns reservierter Haltung gegenüber politisch engagierter Musik wäre der Eindruck verfehlt, das Politische trete in seinen Aussagen völlig hinter dem allgemeineren Anspruch auf Gesellschaftskritik zurück. So hebt Lachenmann 1971 »die Einsicht der politischen Relevanz jeglicher künstlerischer Aktivität«139 hervor und betont, dass die Auseinandersetzung mit der Satztechnik »von gesellschaftspolitischer Bedeutung«140 sei. Mitunter tritt die Behauptung einer politischen Aufgabe von Musik in den Vorarbeiten deutlicher zutage als in der Endfassung eines Textes. So heißt es in den Notizen zu dem Vortrag, der dem Aufsatz »Zum Problem des musikalisch Schönen heute« zugrunde liegt, Schönheit habe »mit politischem Engagement zu tun«141 und sei »ein Appell, eine Einladung, ein Wirkstoff zur Veränderung der Gesellschaft.«142 Eine Veränderungsabsicht, die in späteren Äuße­rungen Lachenmanns abgeschwächt oder zurückgenommen wird, spielt also zu­mindest in dessen Musikverständnis der 1970er-Jahre eine nicht unbedeutende Rolle.

Auch innerhalb der Sekundärliteratur wird Lachenmanns Ästhetik als politisch wahrgenommen – etwa von Martin Kaltenecker, dem zufolge sich bei dem Komponis­ten »ein rein artistisches Aufbegehren mit einem politischen«143 vermengt. Auch Nonnenmann sieht in der Musique concrète instrumentale die »Verbindung von kritischer Materialanalyse mit marxistischer Gesellschaftstheorie«144 verwirklicht.

Es gibt aber auch Gegenstimmen: Mahnkopf schreibt, Lachenmann sei, »anders als Nono, kein politischer Komponist. Ich würde sogar sagen: Er ist ein gesellschafts­kritischer Komponist nur indirekt, weil er als Komponist zu wenig inhaltsästhetisch denkt«.145 Der Publizist und Komponist bekennt, er hätte sich von Lachenmann, den er immerhin als »Wortführer der deutschen Linken«146 bezeichnet, »mehr gesell­schaft­liches Engagement gewünscht«147. Nicht nur die Einschätzungen der Kommentator*innen, auch die Aussagen des Komponisten selbst ergeben ein gemischtes Bild. So kommt wiederholt dessen ambivalentes Verhältnis zur 1968er-Bewegung zur Sprache, wobei Nähe zu einigen Aspekten der Bewegung bekannt wird, während andere ihrer Facetten vehement verworfen werden: »Ich identifizierte mich damals mit dem studentischen Protest und litt zugleich unter den inquisitorischen Selbstzerfleischungen, mit denen dieser Protest sich selbst immer wieder lähmte.«148 Dieser partiellen Sympathiebekundung schickt Lachenmann – mit Blick auf von ihm verurteilte Tendenzen in der zeitgenössischen Kunstmusik – allerdings eine harsche Kritik voraus, wobei er sich auf Spielarten des Komponierens bezieht, die den Werkbegriff in Frage stellen und das Publikum provozieren:

Solche Scharlatanerie ging in ihren dilettantischen Formen eine peinliche Allianz ein mit den kulturkritischen Forderungen der damals bei uns protestierenden Studenten, die im Kampf gegen die sehr wohl empfundene ideologische Restauration, gegen den US-Imperialismus, gegen den Krieg in Vietnam und die Ausbeutung der Dritten Welt unter anderem auch nach einer politisch engagierten Musik verlangten, wobei sie Hanns Eisler und Maos Rede an die Bevölkerung in Yenan ins Feld führten, aber vergaßen, Lukács zu studieren und die Musik Luigi Nonos in die Diskussion ein­zubeziehen.149

Trotz seiner Distanz zu allem, was ihm als dogmatische Linke erscheint (die er mit Ausdrücken wie »Fach-Idioten des Marxismus-Leninismus«150 belegt), äußert sich Lachenmann wiederholt in einer Weise, die mit der politischen Linken kongruent ist: so noch in einem Interview aus dem Jahr 1999, als der revolutionäre Zeitgeist von 1968 längst in sein Gegenteil umgeschlagen war:

Die Probleme und Gefahren und die unmenschliche Rückseite (und geistfeindliche Vorderseite), die den Kapitalismus – in welch zahmer Maske auch immer – charakterisieren, sind durch die weltweite Entlarvung und Ächtung seiner bislang real existierenden Formen in unserer Zeit keineswegs beseitigt oder unaktuell geworden.151

Die Einordnung als ›Linksradikaler‹, die ihm in polemischer Absicht zuteil geworden sei, bezeichnet Lachenmann indessen schon 1976 als »Dummheit«.152 Auch wenn der Komponist Distanz zur 1968er-Bewegung hält, lässt seine Kritik an der Linken doch eine prinzipielle Sympathie erkennen. So äußert er 1973 in einer Replik auf Vorwürfe seitens der Redaktion der Zeitschrift Kunst und Gesellschaft:

Was aber die [politische, Anm. d. Verf.] Reaktion weiß Gott beruhigt, das ist der Dilettantismus und die Primitivität, mit welcher die Linke sich selbst immer wieder lähmt und unglaubwürdig macht, statt über den eigenen dogmatischen Horizont hinaus die kritischen Kräfte im Lande zusammenzuhalten.153

Eine Bündelung der »kritischen Kräfte« unter der Ägide der Linken scheint für den Lachenmann der frühen 1970er-Jahre also durchaus wünschenswert zu sein.

2015 wird der Komponist in einem Interview von dem Cellisten Lucas Fels mit einem Ausschnitt aus einem schriftlichen »Selbstporträt« konfrontiert, in dem er 1975 sein Klangverständnis folgendermaßen definierte: »Klang als Nachricht seiner Entstehungsbedingungen; die Einbeziehung und strukturelle Abwandlung dieser Erfahrung als unvermeidliche, notorische Tabuverletzung und gesellschaftliche Provokation.«154 Lachenmann reagiert auf das Zitat mit Gelächter: »Ja gut, also, das war 75 geschrieben, das war noch ganz im Schatten der 68er-Bewegung.« Fels: »Du hast es damals so empfunden.« Lachenmann: »Ja wir wurden permanent gefragt! ›Wollt ihr nur so elitäre oder abstrakte […] Musik machen da für den Konzertsaal […]?‹«155 Lachenmann scheint sich also im Nachhinein von einer allzu politischen Musikästhetik abgrenzen zu wollen, indem er seine Aussagen einerseits auf die Zeitumstände zurückführt, andererseits durch den Rechtfertigungsdrang, unter dem Musik­schaffende damals standen, zu entschuldigen sucht. Solche Äußerungen weisen darauf hin, dass sich Lachenmann als junger Komponist in den 1960er- und 1970er-Jahren unter Druck gesetzt fühlte, sein Tun als Vertreter der ›Kunstmusik‹ zu rechtfertigen. Indem er seine frühen politischen Äußerungen durch den Verweis auf äußere Umständen erklärt, geht er inhaltlich auf Distanz.156

Auch bei Lachenmanns dezidiert politischen Äußerungen sind über den Zeitraum eines halben Jahrhunderts hinweg, wenig überraschend, Veränderungen zu bemerken. Mehr noch als explizite Bekenntnisse betrifft dies ihr rhetorisches Gewand. In den Äußerungen der frühen 1970er-Jahre findet der politisch radikalisierte Zeitgeist ein deutliches Echo. So heißt es etwa in einem Statement für die Zeitschrift Melos aus dem Jahr 1972: »Von revolutionärem Geist und Willen kann Musik glaubwürdig zeugen, indem sie ihren bislang geläufigen Kommunikationsbereich nicht bloß erweitert, […] sondern indem sie anhand konkreter Alternativen Kommunikation selbst aufs Spiel setzt«.157 Der apodiktische Tonfall und die Unversöhnlichkeit betreffen hier nicht nur die ästhetischen Vorstellungen, welche die legitimen Möglichkeiten des Komponierens auf einen äußerst schmalen Pfad beschränken,158 sondern auch die politische Standortbestimmung.

Eine lexikalische Analyse dieses Aufsatzes enthüllt eine Reihe von Begriffen mit antikapitalistischem Unterton: Da ist die Rede von »Verbrauchsnormen«159 der Musik, von der »bürgerlichen Ideologie«160 der Publikumserwartungen, vom »kommerziell vergifteten tonalen Material«161 und dem »Marktwert der Avantgarde«162. Diese Terminologie weist den Text als Teil eines politischen Diskurses aus, der im marxistisch geprägten Umfeld der Studierendenbewegung vorherrschte.

In weiten Teilen von Lachenmanns kompositorischem Œuvre bleibt Gesell­schafts­kritik jedoch dem eigenen Anspruch nach auf die Behandlung des musikalischen Materials beschränkt. Gerade bei den nach 1968 entstandenen Beispielen einer Musique concrète instrumentale handelt es sich um ›absolute‹ Musik ohne explizite Referenz auf eine außermusikalische Realität. Immerhin nutzen etwa Stücke aus den späten 1970er-Jahren wie Salut für Caudwell oder Tanzsuite mit Deutschlandlied durch die Titelwahl oder das Einbeziehen semantisch aufgeladenen Materials den Verweis auf Außermusikalisches zur Artikulation eines kritischen Standpunkts. Bereits in den 1967/68 in einer ersten Fassung entstandenen Vokalkompositionen Consolation I und II geschah dies durch die Einbeziehung eines Textes, wobei in der Fassung von 1978 auch die Geschichte vom kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern als thematischer Rahmen dient.

Indem Lachenmann Andersens Märchen zur Grundlage seiner 1997 urauf­geführten Oper machte, schuf er ein Stück, das sich wie keines zuvor mit gesellschafts­kritischen Fragestellungen auseinandersetzte. Lachenmann begründet denn auch seine Entscheidung, Andersens Text einen Brief von Gudrun Ensslin an die Seite zu stellen, mit den kapitalismuskritischen Aspekten des Märchens:

Dieses – pardon – Rührstück von Hans Christian Andersen – wer mich kennt, der weiß, wie sehr ich es liebe – ist im Grunde auf seine unwehleidige, sprachlos kindliche Weise eine unverkennbare Anklage gegen Kapitalismus und bürgerliche Gedanken­losigkeit.163

Ensslins Entscheidung für Terror und Mord begegnet Lachenmann nicht mit Zustimmung, wohl aber mit Verständnis:

Sie wurde später in ihrem idealistischen Engagement wie so viele – irgendwann – vor den Kopf gestoßen, nicht zuletzt, als seinerzeit die Notstandsgesetze durchgepeitscht und die Proteste der Studenten mit Wasserwerfern und Knüppeln erstickt wurden. Dazu der selbstgefällige Konsumrausch und die Gleichgültigkeit der Mehrheit gegenüber der Armut und Unterdrückung in der Dritten Welt ebenso wie gegenüber den amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam und, und, und. So hat sie etwas gemacht, was ich nicht gutheiße, aber nachvollziehen kann: Sie hat zur Gewalt gegriffen.164

Was die Verbindung mit dezidiert politischen Inhalten betrifft, stellt Das Mädchen mit den Schwefelhölzern einen Sonderfall dar. In der Regel wird der auf die Gesellschaft zielende Aspekt des Kritischen Komponierens nicht durch außermusikalische Inhalte verdeutlicht. Vielmehr ist Lachenmanns Ästhetik mit dem Anspruch verbunden, ausschließlich durch den Umgang mit dem musikalischen Material und den konventionellen Wahrnehmungskategorien einen kritischen Bezug zur Gesellschaft herzustellen. Im folgenden Kapitel soll gezeigt werden, auf welche Art diese Bezugnahme von Lachenmann konzipiert und argumentiert wird.

Begriff Früheste Fundstelle bei Lachenmann (Jahr EV) Diskursive Herkunft
Material Der Materialbegriff in der Neuen Musik (1964) Theodor W. Adorno, Heinz-Klaus Metzger
Befreiung Zur Analyse Neuer Musik (1973) Herbert Marcuse
Musique concrète instrumentale Werkstatt-Gespräch (1971) Pierre Schaeffer (Konkrete Poesie)
Negation Zur Analyse Neuer Musik (1973) Theodor W. Adorno
Widerstand Zur Analyse Neuer Musik (1973) Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse
Verweigerung Selbstporträt 1975 (1975) Herbert Marcuse
Ästhetischer Apparat Zum Problem des musikalisch Schönen heute (1977) György Lukács, Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno
Verdrängung Aufgaben des Fachs Musiktheorie (1976) Theodor W. Adorno
Widerspiegelung Mahler – eine Herausforderung (1977) György Lukács
Aura Bedingungen des Materials (1978) Walter Benjamin, Theodor W. Adorno

Tabelle 1: Frühestes Auftreten und vermutete Herkunft zentraler Begriffe in Lachenmanns Texten*

Endnoten


  1. Nonnenmann, Der Gang durch die Klippen, S. 100, 144. Vgl. zur Lehrzeit Lachenmanns bei Nono auch: Nonnenmann, »›Wenn ich nicht dich gefunden hätte …‹. Helmut Lachenmann als Schüler Luigi Nonos«, in: NZfM 167 (2006), Heft 1, S. 26-27.↩︎

  2. Ebd., S. 37.↩︎

  3. Michael Struck-Schloen, »› Ernst machen: das kann ja heiter werden!‹. Hören als Beobachten: Helmut Lachenmann im Radiogespräch«, in: MusikTexte (2014), Heft 140, S. 20-27.↩︎

  4. Lachenmann, »Paradiese auf Zeit«, S. 207.↩︎

  5. Ebd., S. 248.↩︎

  6. »Was hat es auf sich mit jenen erwähnten tonalen Resten? Man wirft Nono immer wieder vor, er sei stehen geblieben. Man verkennt dabei, was Stehenbleiben bedeutet in einem Stadium, wo alle anderen Komponisten zurückgegangen sind und auf Wege geringeren Widerstands ausgewichen sind.« ebd., S. 252.↩︎

  7. Ebd., S. 256.↩︎

  8. Ebd.↩︎

  9. Lachenmann, »Zur Analyse Neuer Musik«, S. 33.↩︎

  10. Lachenmann, »Von Nono berührt«, S. 297.↩︎

  11. Ebd., S. 299.↩︎

  12. Helmut Peitsch, »Engagement/Tendenz/Parteilichkeit«, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden 2, hg. von Karlheinz Barck, Stuttgart, Weimar 2002, Sp. 178-223. In der westdeutschen Kunstmusik der 1960er- und 1970er-Jahre wurde eine solche dezidiert politische Ästhetik etwa von Hans Werner Henze oder dem Kreis um die Zeitschrift Kunst und Gesellschaft vertreten. Vgl. Redaktion der Zeitschrift Kunst und Gesellschaft, »Musik im Klassenkampf. Zur Kampfmusik Hanns Eislers« [1973], in: MaeE3, S. 405-406.↩︎

  13. Lachenmann, »Luigi Nono oder Rückblick auf die serielle Musik«, S. 248.↩︎

  14. Ebd., S. 256.↩︎

  15. Lachenmann, Zum Problem des musikalisch Schönen heute (1976).↩︎

  16. Ebd.↩︎

  17. Martin Kaltenecker, »Manches geht in der Nacht verloren. Fragmente zu Lachenmanns ›Reigen seliger Geister‹«, in: MusikTexte 67-68 (1997), S. 67-74, hier S. 70.↩︎

  18. Nonnenmann, »Die Sackgasse als Ausweg«, S. 49.↩︎

  19. Claus-Steffen Mahnkopf, »Was heißt kritisches Komponieren?«, in: KunstMusik (Herbst 2006), S. 13-27, hier S. 19.↩︎

  20. Mahnkopf, »Zwei Versuche zu Helmut Lachenmann«, S. 22.↩︎

  21. Ebd.↩︎

  22. Lachenmann, »Komponieren im Schatten von Darmstadt«, S. 345.↩︎

  23. Ebd., S. 344-345.↩︎

  24. Lachenmann, »Zur Frage einer gesellschaftskritischen (-ändernden) Funktion der Musik«, S. 98.↩︎

  25. Ryan, »Musik als ›Gefahr‹ für das Hören«, S. 14.↩︎

  26. Lachenmann, »Zum Problem des musikalisch Schönen heute«, S. 106.↩︎

  27. Helmut Lachenmann, »In Sachen Eisler. Brief an ›Kunst und Gesellschaft‹«, in: MaeE3, S. 329-330, hier S. 330.↩︎

  28. Lachenmann, »Selbstporträt 1975«, S. 153.↩︎

  29. Still, Helmut Lachenmann »Pression« with Lucas Fels.↩︎

  30. Lachenmanns Verhältnis zur Studierendenbewegung und der radikalen Linken der 1970er-Jahre betreffend, vgl. auch Laurent Feneyrou, De lave et de fer. Une jeunesse allemande: Helmut Lachenmann, Paris 2018.↩︎

  31. Lachenmann, »Zum Verhältnis Kompositionstechnik – Gesellschaftlicher Stand­ort«, S. 98.↩︎

  32. In dem 1973 erschienenen Aufsatz »Zur Analyse Neuer Musik«, mit dem der Text »Zum Verhältnis Kompositionstechnik – Gesellschaftlicher Standort« wesentliche Passagen teilt, ortet Lachenmann in den Werken zeitgenössischer Komponisten »›regressive‹ Elemente«, die das Publikum zu tonal geprägten »Querfeldein-Kontakten« einladen würden. So sieht er in Stockhausens Gruppen die Gefahr, dass »tonales Hören wegen der linearen Eindimensionalität […] wieder Fuß fassen« wird. Bei Ligetis Requiem ist es ihm darum zu tun, »Eigenschaften, die den Charakter dieses Stücks maßgeblich bestimmen, zu entlarven als bewußt um ihrer geläufigen Wirkung willen geborgte Klischees der bürgerlichen tonalen Musikerfahrung«, und selbst über Nonos Canto sospeso konstatiert er: »[D]iese aus dem Tonalen herübergerettete Expressivität ist die unvermeidlich wunde Stelle des Stücks.« Siehe Lachenmann, »Zur Analyse Neuer Musik«, S. 21, 27, 29.↩︎

  33. Ebd., S. 24.↩︎

  34. Ebd., S. 29.↩︎

  35. Ebd., S. 33.↩︎

  36. Ebd., S. 34.↩︎

  37. Struck-Schloen, »› Ernst machen: das kann ja heiter werden!‹«, S. 24.↩︎

  38. Ebd.↩︎

* Diese Tabelle wurde gegenüber der Printfassung korrigiert.↩︎