2.5 Der Eigenkommentar als Bestandteil des Werkes?


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Dražić, Lena. 2024. Die Politik des Kritischen Komponierens. Diskursive Verflechtungen um Helmut Lachenmann. Wien und Bielefeld: mdwPress. https://doi.org/10.14361/9783839467015. Cite


Die Tatsache, dass Lachenmann so eingehend zu ästhetischen Fragen Position bezogen und damit den Diskurs der ›neuen Musik‹ weitreichend geprägt hat, veranlasste manche Autor*innen – etwa Albrecht Wellmer –, die Texte des Kompo­nisten als konstitutive Bestandteile seiner Werke zu begreifen.36 Auch Hiekel äußert die Vermutung, Verstehensversuche von Lachenmanns Musik (oder Musik überhaupt) seien auf die Wortsprache angewiesen,37 und stellt mit Dahlhaus ein »Ausle­gungsprivileg«38 Lachenmanns in Bezug auf dessen Werke in den Raum. Nonnenmann hält mit Verweis auf Adorno fest, dass Musikalisches zu seiner Vermittlung des Außermusikalischen bedürfe und stets auf der Grundlage von Vorinformationen rezipiert werde.39 Im Hinblick auf Brian Ferneyhough geht Max Paddison von einer Art Parallelismus zwischen Musik- und Textproduktion aus, bei der beide aus ein und derselben kreativen Quelle entspringen.40

Diese Sichtweise hat einiges für sich: Gerade die Rezeption zeitgenössischer Musik ist undenkbar ohne begleitenden Diskurs. Auch ließen sich, da viele Autor*innen ›neuer Musik‹ auch verbal zu ästhetischen Fragen Stellung beziehen, beide Dimensionen als im elementaren Sinn zusammengehörige – und sich lediglich unterschiedlicher Medien bedienende – kreative Äußerungen begreifen. Doch birgt dieser Standpunkt seine Tücken: So begründet etwa Hiekel die Notwendigkeit von Lachenmanns Einführungstexten mit der Sorge, dass seine Kompositionen sonst falsch verstanden werden könnten – was impliziert, dass die Deutungshoheit über ein Musikstück beim Komponisten liegt. Hiekel verdeutlicht dies am Beispiel des Werkkommentars zu Mouvement, der das Thema des ›Leerlaufs‹ »so unmiss­verständlich [behandle], wie es der Musik versagt bleibt. Über das Erklärungsmodell eines Komponisten setzen sich Hörer freilich oft hinweg, was ebenso bewusst wie unbewusst geschehen kann.«41 Doch was besagt die Thematisierung des Leerlaufs im Komponistenkommentar und Hiekels Beobachtung, dass die Musik diesen nicht ›so unmissverständlich‹ wie der Text zum Ausdruck bringe? Der Deutungsvariante, wonach das Thema der Komposition aus der Intention des Komponisten abzuleiten sei, die sich wiederum im Werkkommentar manifestiere, ist jedenfalls mit Skepsis zu begegnen. Demgegenüber ließe sich etwa auch die These vertreten, eine Interpretation, die in Mouvement nicht Leerlauf, sondern freudige Betriebsamkeit zu vernehmen meint, sei ebenso legitim wie jene Lachenmanns. In diesem Sinn wären die Komponist*innenkommentare gerade kein Bestandteil des Werkes, sondern lediglich eine Interpretation neben vielen anderen, nicht mehr oder weniger gültig als diese. Eventuell sagt die Beobachtung, dass die Metapher des Leerlaufs die innere Dynamik des Stückes nur unzulänglich beschreibt, mehr über dieses aus als die Bemühung, den Höreindruck einer vermeintlichen konzeptuellen Essenz anzupassen, zu deren Verdeutlichung die Musik eben nur unzureichend in der Lage sei.

Dies wirft die Frage auf, ob Lachenmanns Musique concrète instrumentale grundsätzlich als eine Art Konzeptmusik zu verstehen sei und das klangliche Moment in der Tat nur eine – und nicht einmal unbedingt die wesentliche – Dimension des Werkes darstelle. Dem steht allerdings zum einen Lachenmanns Verständnis einer Werkautonomie im Sinne der europäisch-bürgerlichen Musiktradition entgegen. Zum anderen verkennen solche Deutungen die Eigengesetzlichkeit des Klingenden, das gerade nicht auf eine zugrunde liegende Idee zu reduzieren ist, sowie die Qualität einer Interpretation, die sich am tatsächlich Gehörten und nicht an autoritativen Suggestionen orientiert.

Endnoten


  1. Albrecht Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, München 2009, S. 271.↩︎

  2. Hiekel, »Lachenmann verstehen«, S. 12.↩︎

  3. Hiekel, »Erfolg als Ermutigung«, S. 17-18.↩︎

  4. Nonnenmann, »Was ist Musik?«, S. 99.↩︎

  5. Max Paddison, »Der Komponist als Kritischer Theoretiker. Brian Ferneyhoughs Ästhetik nach Adorno«, in: Musik & Ästhetik 3 (1999), Heft 10, S. 95-100, hier S. 95.↩︎

  6. Hiekel, »Erfolg als Ermutigung«, S. 18.↩︎