6.2 Stadien im Sprechen über Lachenmann


Unterkapitel

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In der frühen Lachenmann-Literatur stechen neben der Nähe der Positionen die ostentativ zur Schau getragene Gelehrsamkeit und der oft hochtrabende Stil hervor, die den vorgetragenen Standpunkten Dignität verleihen sollen. Die Autor*innen äußern sich im Sinne von Adornos Kulturindustrie-27 und Materialbegriff28, geißeln in der Sprache der Neuen Linken Entfremdung29 oder berufen sich auf das Fortschrittsprinzip30 und den utopischen Charakter von Kunst31. Sie verdammen – wie Hans-Peter Jahn – das Äußerliche, das Virtuose und den Effekt und bedienen damit die idealistische Metaphorik von Oberfläche versus Substanz (wobei Jahns Analyse von Pression, wie gleich noch zu zeigen sein wird, in signifikanten Punkten von Lachenmanns Interpretationsmustern divergiert).32 Auch das psychoanalytische Vokabular (›Verdrängung‹) ist Teil des rhetorischen Instrumentariums der Neuen Linken, das in diesen Texten widerhallt. In der Zusammenschau der vor 1990 erschienenen Texte entsteht der Eindruck, dass die Verwendung des Vokabulars der Kritischen Theorie keiner Begründung bedarf, da diese im linksintellektuellen Denken der alten BRD eine hegemoniale Stellung einnimmt. Ohne auf explizite Verweise auf Adorno oder andere Autor*innen der Frankfurter Schule angewiesen zu sein, sind die Texte in einer Weise von deren Rhetorik und Gedankenwelt durchdrungen, die sie als Bestandteile desselben Diskurszusammenhangs ausweist.

Bereits in dem Lachenmann gewidmeten Schwerpunkt der MusikTexte von 1997 finden sich hingegen Belege für eine wachsende Distanz gegenüber Lachenmanns Begrifflichkeit und seinen ästhetischen Entwürfen – etwa, wenn Eberhard Hüppe eine Diskrepanz zwischen der »Schattenmetaphorik«33 in Lachenmanns Texten und der »Helligkeit«34 seiner Klangsprache konstatiert oder wenn Martin Kaltenecker dieser eine »ganz eigene Heiterkeit«35 zuspricht und zu dem Schluss kommt: »Man kann nicht umhin, in dieser Musik, selbst um den Preis einer Abschwächung ihrer rein polemischen Energie, Schönheit zu finden.«36 Andererseits ist das Phänomen der ›Verschwisterung‹ auch in den späten 2000er-Jahren noch präsent.37 Ein gegensätzliches Bild vermitteln zwei 2004 und 2005 erschienene, Lachenmann gewidmete Sonderhefte der Contemporary Music Review, die als englischsprachige Sammelwerke über den Komponisten eine Sonderstellung einnehmen. Die veränderte kulturelle Perspektive macht deutlich, wie sehr es sich beim Lachenmann-Diskurs im engeren Sinn um ein deutschsprachiges Phänomen handelt. Die in den Sonderheften vertretenen Positionen unterscheiden sich teils eklatant vom normativen Rahmen der Kritischen Theorie, der die hiesige Auseinandersetzung über lange Zeit geprägt hat – auch wenn sich die Texte teilweise in das (kontinental‑)europäische Narrativ einer exklusiven Kunstmusik fügen.38 Freilich erwachsen aus einer weniger intimen und differenzierten Kenntnis der deutschsprachigen Kompositionslandschaft teilweise eigenwillige Ver­all­ge­mei­nerungen und Verschiebungen, etwa, wenn Lachenmanns Caudwell-Verweise als Beleg für dessen ›aktivistische‹ Haltung herangezogen werden39 oder der Komponist als paradigmatischer Vertreter der Avantgarde schlechthin apostrophiert wird, ohne seine Distanz zur seriellen Musik wie auch gegenüber einem undialektischen Fortschrittsdenken in Rechnung zu stellen. Interessanterweise führt die durch den Außenseiterstatus bewirkte Perspektivenverschiebung zu Analysen, die – ohne Bezugnahme auf die von Lachenmann bereitgestellten Kategorien – zu völlig abweichenden Ergebnissen finden.40 Insgesamt wird deutlich, dass sich Lachenmann nicht nur als Komponist außerhalb des angloamerikanischen Kanons ›neuer Musik‹ bewegt, sondern das Referenzsystem der Kritischen Theorie hier seiner Selbstverständlichkeit beraubt wird. Nicht zuletzt äußert sich die Differenz zur deutschsprachigen Literatur darin, dass die Autor*innen ihre Frustration und Hilflosigkeit angesichts Lachenmann’scher Partituren und Klanggebilde bereitwillig zugeben,41 was im deutschen Sprachraum einem Eingeständnis von Banausentum gleichkäme.42

Dass die deutschsprachige Lachenmann-Literatur ebenfalls Veränderungen unterliegt, ist daran abzulesen, dass auch hier die Terminologie der Kritischen Theorie – und jene des Komponisten – allmählich in den Hintergrund tritt und durch alternative Begrifflichkeiten ergänzt wird, ohne je ganz zu verschwinden. Diese Termini, die im Laufe der 2000er-Jahre allmählich Platz greifen, umfassen etwa den Bildbegriff, dessen Verwendung Lachenmann durch den Untertitel Musik mit Bildern seines Musiktheaters Das Mädchen mit den Schwefelhölzern nahegelegt hat. Nachdem ihn Nonnenmann in einem 2005 erschienenen Text ins Zentrum stellt,43 wird er in der jüngsten Lachenmann gewidmeten Sammelpublikation von 2012 titelgebend und damit dem ›Iconic Turn‹ in den Kulturwissenschaften Genüge getan. Auch die Begriffe der »Transzendenz«44 und der »Interkulturalität«45 spielen seit Mitte der 2000er-Jahre in der Lachenmann-Diskussion eine größere Rolle – die Öffnung gegenüber weiteren alternativen Konzepten kommt in Kapitel 6.2 ausführlicher zur Sprache. Schließlich erheben Christan Utz und Clemens Gadenstätter mit ihrem 2008 erschienenen Band Musik als Wahrnehmungskunst den Anspruch, Interpretationen abseits der Deutungsmuster des Komponisten zu ihrem Recht zu verhelfen:

So versucht dieser Band Zugänge zu Lachenmanns Musik zu finden, die sich nachhaltig absetzen von jenen ubiquitären scheinbar theorieüberfrachteten, in Wahrheit aber meist nur an Theoriemangel leidenden Echos, die Lachenmann’sche Theorie-Praxis journalistisch zurechtstutzen oder ihr matt nachsprechen.46

Auch Klaus-Michael Hinz und Eberhard Hüppe legen 1997 bzw. 2005 Analysen vor, die sich zumindest teilweise jenseits des Lachenmann’schen Kategoriensystems bewegen.47

Der Diskurs als sein eigener Gegenstand

Die größte Transformation innerhalb der Lachenmann-Literatur dürfte in der Ablöse einer »frühen Phase der unbefragten Geltung des Autor-Wortes«48 durch eine verstärkte Dissidenz gegenüber der autoritativen Anweisung Lachenmanns bestehen. Wellmer sieht Mitte der 1990er-Jahre eine zunehmend kritische Auseinandersetzung mit der »Frage, inwieweit Lachenmanns Ästhetik und seine Selbstkommentare für das Verständnis und die Deutung seiner Musik und ihres zeitgeschichtlichen Orts überhaupt relevant sind«49, wobei er Nonnenmann als Beispiel für »eine eng an Lachenmanns Ästhetik orientierte Interpretation seiner Musik« und Brinkmann als Stellvertreter einer durch größere Distanz geprägten Haltung zitiert.

Allerdings hat sich auch Nonnenmann für einen kritischen Umgang mit Lachenmanns Selbstkommentaren ausgesprochen, die »nicht umstandslos als letzte verbindliche Aussagen über seine Werke zu hypostasieren, sondern selbst zum Gegenstand der Untersuchung zu machen«50 seien. Manche Autor*innen würden indessen »der Suggestivkraft von Lachenmanns Musikdenken unterliegen und mehr oder weniger nur referieren, was dieser in zahlreichen Essays und Interviews oftmals deutlicher und konziser dargelegt hat.«51 Auch Mahnkopf bemerkt am Beispiel von Concertini, dass Lachenmanns Musik »ein anderes Beschreibungsvokabular als dasjenige [verlange], das Lachenmann selbst über Jahrzehnte implementierte«52, und Hiekel macht auf die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen Lachenmann als Autor und Lachenmann als Komponist aufmerksam, während Matthias Schmidt konkret die Adäquanz des Begriffsfelds des ›Negativen‹ im Hinblick auf Lachenmanns Komponieren in Frage stellt.53 Jahn unterzieht 2006 die Ausrichtung der Lachenmann-Literatur an der Begrifflichkeit des Komponisten einer herben Kritik:

Bei den zahllosen Analysen zu Helmut Lachenmanns Musik pendelt sich ein Reflexions- und Interpretationsstil ein, der den Termini des Komponisten ergeben nacheifert und damit gerade das, was der Komponist will – nämlich eine autarke und authentische Inanspruchnahme der Werke mit dem individuellen Instrumentarium des Erkennens – versäumt. Selten kommt es vor, dass der Blickwinkel auf das Werk überraschend und nonkonformistisch ausgerichtet ist. Auch Musikwissenschaftler haben Angst, ihre Kompetenz gegen die Strömungen der Nomenklatur zu behaupten.54

Jahn bleibt nicht der einzige Kritiker einer orthodoxen Anlehnung an Lachenmanns Theoriegebäude, die – so Nyffeler – »nicht mit der Aura des Unantastbaren umgeben werden«55 sollen. Nyffeler schildert Lachenmanns Aufstieg zu einer »unbestreitbaren Autorität«56, welcher

zur unliebsamen Folge [hatte], dass seine Schriften – Ausdruck eines eigensinnigen und unbeirrt auf die Freiheit des künstlerischen Gedankens gerichteten Geistes – von einer wachsenden Schar von Adepten als ästhetisches Rezeptbuch betrachtet werden, in der irrigen Annahme, daraus allgemeine Leitsätze für eine »fortschrittliche Praxis« ableiten zu können.57

Die Kritik an einer ›Lachenmann-Orthodoxie‹, die den Texten des Komponisten im Hinblick auf die Interpretation seiner Werke zentrale Bedeutung beimisst, ist Hiekel zufolge selbst schon zu einem »Topos«58 der Lachenmann-Literatur geworden, wobei der Autor einräumt:

Dass dieses Dilemma im Falle Lachenmann womöglich gravierender ist als bei den meisten anderen Komponisten der Gegenwart, hat mit dem besonderen Nachdruck und auch der Brillanz seiner Texte zu tun. Diese können als Musterbeispiel dafür gelten, wie wichtig das erklärende Kommentieren von Kompositionen in der neuen Musik seit 1945 geworden ist.59

Während Hiekel die mangelnde Eigenständigkeit der Lachenmann-Exeget*innen mit der Suggestivkraft von Lachenmanns Texten zu entschuldigen sucht, dessen in Musik als existentielle Erfahrung versammelten Äußerungen der Status einer diskursiven Autorität zukomme, wird diese von Brinkmann selbstkritisch ins Visier genommen:

Und wir, die Nachschreibenden, folgen oft nur zu bereitwillig dem listig vorgeschlagenen Interpretationsmuster, es erscheint als »authentisch« und stammt ja offensichtlich aus derselben so geheimnisvollen Welt des »Schöpferischen«, die auch dem Kunstwerk seine Dignität gibt.60

Prägte die Dominanz von Lachenmanns eigenen Erklärungsmustern insbesondere die Frühphase des Sprechens über den Komponisten, so wird sie seit den 2000er-Jahren vermehrt kritisch gesehen – etwa von Hiekel, der es als Selbstverständlichkeit bezeichnet, die »aber […] im musikwissenschaftlichen und musikpädagogischen Umfeld wohl dennoch hervorgehoben werden [muss], dass die Texte über Musik im Verhältnis zur Musik selbst sekundär sind.«61 Mahnkopf wiederum führt ins Treffen, dass die Kommentare eines Komponisten nicht ohne Weiteres als »theoretisches System«62 zu behandeln seien. Ferdinand Zehentreiters auf Nicolaus A. Huber gemünzte Feststellung: »Huber’s theoretical program of an independent form of critical composition and his concrete aesthetic visions drift apart«63, lässt sich wohl auch auf Lachenmann übertragen. Bei dem Gedankengebäude einer Komponist*in, mag es noch so elaboriert sein, und ihren musikalischen Kreationen handelt es sich um zwei verschiedene Welten. Die Musikpublizistik könnte also einen Fehler begehen, wenn sie das Schreiben von Komponierenden umstandslos als ›Theorie‹ akzeptiert, zu der die Kompositionen die ›Praxis‹ darstellen – und vice versa. Auch die von der Lachenmann-Literatur anfangs so dankbar aufgegriffenen ästhetischen Kategorien des Komponisten werden nun einer kritischen Prüfung unterzogen – zumal sich der damit verbundene Geltungsanspruch Thomas Kabisch zufolge nicht auf den theoretischen Bereich beschränkt, sondern auch die Musik umfasst:

Im Begriff der »Verweigerung« gehen der Umgang des Komponisten mit dem musikalischen Material, die erkenntnistheoretische Einsicht in die begriffliche Präformierung jeglicher Erfahrung und eine kulturkritische Wendung gegen den »universellen Verblendungszusammenhang« ununterscheidbar und wenig glücklich ineinander über.64

Neben der theoretischen Konsistenz der Komponist*innenkommentare bildet auch deren Verhältnis zum musikalischen Werk ein wiederkehrendes Thema im Diskurs in dessen reflexivem Stadium. So wird von mehreren Autor*innen in Frage gestellt, ob die Hörenden die von Lachenmann intendierten Bedeutungen in der Musik auch tatsächlich wahrnehmen würden.65 Das oben angesprochene Auseinanderklaffen von Kommentar und Komposition sowie den Versuch des Komponisten, deren Bedeutung durch verbale Erläuterungen festzulegen, problematisiert etwa Franklin Cox, dem zufolge »die Diskrepanz zwischen der nackten musikalischen Substanz und dem, was dadurch vermittelt werden soll, […] am Dogmatismus vieler Artikel zu Lachenmanns Musik von ehemaligen Schülern und Sympathisanten gemessen werden«66 kann.

Als herausragendes Beispiel für das Hinterfragen von Lachenmanns Autoritätsposition nennt Brinkmann die Beschäftigung mit Lachenmanns Violoncello-Stück Pression durch den Cellisten Hans-Peter Jahn, der schon 1988 eines der Kernelemente von Lachenmanns Ästhetik aus der Sicht des Interpreten in Zweifel gezogen hat:67

Wer die Möglichkeit besaß, durch lange Zeit hindurch an Pression interpretatorisch zu arbeiten, wird der Lachenmannschen Aussage »Schönheit als verweigerte Gewohnheit« nicht mehr bedenkenlos zustimmen können, da er sich durch die Auseinandersetzung mit dieser neuen Sprache nicht nur an diese angepaßt, sondern auch gelernt hat, mit ihr zu sprechen.68

Die Vertrautheit des Interpreten mit der Musik unterläuft also den Schockeffekt, den die Lachenmann’sche Gewohnheitsverweigerung zu erzielen trachtet. Das bloß Negative wird zu einem neuen Positivum, wird zu Sprache – und somit ein Hauptaxiom der ästhetischen Moderne, die Forderung nach konstanter Erneuerung, ad absurdum geführt. Die Erfahrung der ›Ungeborgenheit‹ verwandelt sich, so Jahn knapp zwei Jahrzehnte später, bei mehrfacher Rezeption eines Lachenmann-Stückes »in ›rückversichernde‹ Erfahrungen mit dem Verlauf der Komposition.«69 Mit der Formel von ›Schönheit als Verweigerung von Gewohnheit‹ nimmt Jahn eine Aporie nicht nur von Lachenmanns gesellschaftskritischer Ästhetik, sondern des Kritischen Komponierens insgesamt ins Visier:

Wenn also Schönheit als die Verweigerung von Gewohnheit begriffen wird, dann hätte die Kunst sich permanent zu häuten. Oder den Begriff der Gewohnheit hätte man unter differenzierterer Betrachtung ob seiner Stigmatisierung zu befragen gehabt. Hat man sich an etwas gewöhnt, das man liebt? Ist Gewohnheit eine Vorstufe von Faulheit, Trägheit, Erstarrung?70

Nicht nur die negativen Konnotationen von Gewohnheit benennt der Autor als fragwürdig, sondern insbesondere den inneren Widerspruch einer Erneuerung in Permanenz, der in den Texten über Lachenmann zunehmend zum Problem gemacht wird – etwa von Domann, dem zufolge »der Ansatz einer Ästhetik des Negativen zwar als einmaliges Ereignis seine Berechtigung und Wirkung zu haben [scheint], nicht aber als andauernder Ansatz zum Komponieren«71, oder von Mahnkopf, in dessen Augen »alle negativistischen Bestimmungen hinfällig werden, wenn das Negative zum Normalen wird.«72

Die Dialektik von Verweigerung und Erfolg

Einen der häufigsten Einwände gegenüber Lachenmanns Kritischem Komponieren bildet die Überlegung, dass dessen Wirkung paradoxerweise durch seinen eigenen Erfolg gefährdet werde. Lachenmanns Intention, durch die Frustration von Hörerwartungen eine Disruption zu erreichen, die bei den Hörenden eine kognitive Neuorientierung auslösen soll, laufe ins Leere, sobald der Musik gesellschaftliche Anerkennung zuteilwerde. Mehrere Autor*innen haben die Meinung geäußert, dass dieser Moment bei Lachenmann längst erreicht sei.73 So macht Nonnenmann darauf aufmerksam, dass das Kritische Komponieren ein zeitgebundenes Phänomen sei, das durch Wiederholung seine kritische Sprengkraft verliere:

Als Folge inner- und außermusikalischer Veränderungen, Etablierung und Akzeptanz kann sein kritisches Potential unter Umständen so weit schwinden, daß es nicht mehr wahrgenommen wird und wie bei alter Musik erst wieder durch historisch-rekonstruktive oder aktualisierende Interpretationsansätze neu erfahrbar gemacht werden muß.74

Auch Mahnkopf stellt fest, dass der Aufstieg in den Rang der »Klassizität« der von ihm als »Negativismus« bezeichneten Kompositionsrichtung, zu der er Lachenmann zählt, zu deren Intentionen im Widerspruch stehe – einem Widerspruch, den auch Domann thematisiert:

Ein Werk mit Wahrheitsanspruch darf nicht erfolgreich sein, wenn doch Erfolg Vermarktung bedeutet und damit Hörgewohnheiten prägt und zur Konstitution von ästhetischen Erwartungshaltungen beiträgt, zu deren Negation und Verweigerung es doch gerade in seinem Wahrheitsanspruch angetreten ist. […] Schon gar nicht darf es zum Repertoire des Publikums werden, das nach einem Prozess der Eingewöhnung Gefallen daran finden könnte, womit man in die Sphäre der Sinnlichkeit und des Genusses vorstieße.75

Dass sich Lachenmann selbst dieser Paradoxie bewusst war, zeigt eine Diskussion im Jahr 2003, an der neben dem Komponisten auch Heinz-Klaus Metzger beteiligt war. Auf Metzgers Mahnung, Kunst müsse stets einen kritischen »Stachel«76 bewahren, um ihrem Wahrheitsanspruch gerecht zu werden, entgegnet Lachenmann: »Was bedeutet denn ›Stachel‹ in einer kulturellen Situation, in der auch eine Art masochistisches Lustprinzip in der Rezeption zu beobachten ist? Wo auch der Begriff der Provokation noch einmal befragt werden muss?«77 Weiters distanziert sich Lachenmann vom Begriff des »Negativen«78 und stellt klar, dass die Vorstellung der ›Verweigerung‹ für ihn immer mit jener eines ›Angebots‹ verbunden gewesen sei: »Für mich ist es nie die Frage gewesen, ob die Kunst ›Ja‹ oder ›Nein‹ sagt, denn dort, wo sie das tut, spielt sie ein Moralistenspiel.«79 Diese Aussage kann einerseits als Reaktion auf die Kritik am Kritischen Komponieren gelesen werden – andererseits lässt sich der Umstand, dass Lachenmann seine Position kritisch weiterdenkt, auch als Integration von Teilen dieser Kritik verstehen.

Neben dem Paradox einer Erneuerung in Permanenz gerät, wie bereits angedeutet, auch die grundsätzlich negative Bewertung von Gewohnheit im Diskurs um das Kritische Komponieren – und somit auch der a priori progressive Charakter ihrer Verweigerung – ins Visier der Kritik. So wurde von Autor*innen, die dem Kritischen Komponieren durchaus wohlwollend gegenüberstehen, auf einige grundlegende Probleme einer Ästhetik hingewiesen, die die Zuständigkeit der Kunst in den Bereich des Gesellschaftlichen ausdehnt und den ästhetischen Anspruch mit einem moralisch-politischen verknüpft. Diese Kritik zielt etwa auf die Annahme, eine Rezeptionshaltung, die das Gewohnte bevorzugt und nach traditioneller Schönheit oder Kunstgenuss strebt, müsse mit einer reaktionären Haltung oder einer affirmativen Einstellung gegenüber der gesellschaftlichen Realität einhergehen.80

Dem schließt sich die allgemeinere Frage nach der Sinnhaftigkeit und den Möglichkeiten einer Übertragung theoretischer Konzepte auf die Musik an, wie sie nicht nur für Lachenmann, sondern für das Kritische Komponieren in seiner Gesamtheit konstitutiv ist. In diesem Zusammenhang wird die Problematik einer Adoption der Theorien Adornos angesprochen, die oft zur Autorisierung der Konzepte des Komponisten dienen sollen, während die Musik nur scheinbar den der Theorie immanenten Wahrheitsansprüchen genügt.81 Skepsis wird auch hinsichtlich Lachenmanns Überzeugung laut, der ästhetische Stimulus bewirke nicht zuletzt eine persönliche Transformation, die als Grundlage gesellschaftlicher Veränderung dienen könne. So sieht Cox Lachenmann als Romantiker

in dem Sinne, dass die von individueller Verwandlung offenbarten Befreiungsperspektiven […] als notwendige Bedingung für die erwünschte gesellschaftliche Verwandlung betrachtet werden. Zuweilen scheinen diese als »Ersatzprogramm« zu dienen, bei dem der Avantgarde-Künstler seine Ziele zur gesellschaftlichen Veränderung charismatisch in seiner eigenen Person realisiert und durch seine Musik an eine kleine Gruppe von Auserwählten vermittelt, deren Aufgabe es dann wird, diese Vision in der Kunstwelt zu realisieren […].82

Diese Kritik beinhaltet also einen grundlegenden Zweifel an den Möglichkeiten einer Kunst mit gesellschaftskritischem Anspruch und am Erzielen realer Veränderung durch die Befrachtung des Ästhetischen mit politischen Inhalten, die möglicherweise eine symbolische Übertragung mit dem Charakter einer Ersatzhandlung darstellt. Kaltenecker merkt in diesem Zusammenhang an, dass es sich bei der Parallelsetzung einer »Differenzierung unserer Sinneswahrnehmungen«83 durch die Kunst mit der Sphäre politischen Handelns um einen Topos handle, »der allerdings grundlegend ist in der Moderne.«84

Auch Jahn spricht fundamentale Probleme an, die eine auf Gesellschaftsveränderung zielende Ästhetik mit sich bringe – etwa die mangelnde Konkretion der angestrebten Veränderungen oder das Fehlen von Indikatoren, an denen ein Erfolg oder Scheitern des Unterfangens abzulesen wäre:

Wer darauf abhebt, das Hören als Veränderungsinitiative zu bestimmen, ohne zu benennen, was sich verändern soll, will Veränderung als moralischen Imperativ begreifen. Jede musikalische Präsenz verändert den Zustand der Hörenden. Über die Effizienz solcher Veränderungen gibt es wenige wissenschaftliche Untersuchungen. […] Die Abscheu vor einem Werk spricht ja nicht gegen das Werk, sondern spricht für die Wirkung desselben und spricht für die Imponderabilien des Hörens. Aber genauso wenig spricht Begeisterung für das Werk. Sie bringt zum Ausdruck, was ein Hörender beim Hören empfindet. Seine Konditionierung wird dabei vielleicht verständlich, nicht aber die Relevanz eines Werks für die jeweilige Gesellschaft.85

Die Ungewissheit einer gesellschaftlichen Wirkung kann das Projekt des Kritischen Komponierens für Nonnenmann insgesamt in Frage stellen:

Die Diskrepanz zwischen seinem theoretischen Wirkungsanspruch und seiner praktischen Folgenlosigkeit ist eine historische Tatsache, die an die Substanz des Ansatzes rührt. Das westdeutsche, vorwiegend material- und formalästhetisch orientierte »kritische Komponieren« hatte in den vergangenen fast vierzig Jahren ebenso wenig spürbaren Einfluß auf die Gesellschaft der BRD, wie das ostdeutsche, vorwiegend inhaltsästhetisch dominierte »kritische Komponieren« wirksam zum Aufbau eines besseren Sozialismus in der DDR beitragen […] konnte. Bleibt der beabsichtigte Einfluß auf die Gesellschaft aus, droht Musik zum Surrogat besserer Verhältnisse oder zur bloßen Fiktion von Freiheit zu werden und damit eben den »affirmativen Charakter« anzunehmen, den Herbert Marcuse schon in den 30er Jahren an der bürgerlichen Kultur kritisiert hatte.86

Nonnenmann berührt hier ein essenzielles Problem jeder Kunst mit gesellschaftskritischem Anspruch: Das nicht verifizierbare, aber zumindest denkmögliche Ausbleiben realer Wirkungen kann Kritischem Komponieren sogar jenen scheinhaften Charakter verleihen, dem es eigentlich entgegensteht – als Vorspiegelung einer gesellschaftsverändernden Perspektive, die nur vorgeblich an Machtverhältnissen rüttelt und damit effektive Kritik und Veränderung im Extremfall nicht ermutigt, sondern hemmt. Ein weiterer neuralgischer Punkt des Kritischen Komponierens gerät dabei in den Blick: Warum wird die Aufgabe der Kritik – einer Tätigkeit, die per definitionem Urteile fällt, also Aussagen trifft – ausgerechnet einem nicht-propositionalen Medium wie der Musik übertragen, obwohl eine differenzierte Gesellschaft über reichlich Spezialist*innen für Kritik (wie Philosoph*innen, Wissenschaftler*innen, Jurist*innen, Journalist*innen oder politische Aktivist*innen) verfügt?

Auch im Hinblick auf andere Disziplinen ist der gesellschaftskritische Anspruch von Musik zu relativieren. Kritik ist kein Privileg der Kunst, sondern in anderen Lebensbereichen wie Politik, Medien, Wissenschaft, Wirtschaft, Verbänden, Kirchen etc. viel stärker ausgeprägt und zumeist auch viel wirkungsvoller.87

Nonnenmann spricht ferner das Dilemma einer Institutionalisierung der Gesellschaftskritik in Form des Kritischen Komponierens sowie einer Gewöhnung an, die der Kritik ihren Stachel nimmt.88 Kohler geht noch weiter mit der Aussage, dass die rhizomatisch vernetzte Gesellschaft der Gegenwart das theoretische Modell, auf dem die Musique concrète instrumentale basiere – einschließlich der Vorstellung eines monolithischen, zentralen Steuerungsapparats hinter der Kulturindustrie –, als unzeitgemäß erscheinen ließe:

Ich glaube, daß sowohl die geistesgeschichtlichen als auch die gesellschaftlichen Bedingungen, auf deren Grundlage Lachenmann seine »musique concrète instrumentale« entwickelt hat, so in der Gegenwart nicht mehr gegeben sind. Wenn dies richtig ist, dann drängt sich völlig zwanglos die Frage auf, welche Konsequenzen dies für die Musik hat.89

Diese Beispiele können als Beleg dafür dienen, dass der Diskurs über Lachenmann alles andere als einheitlich ist und mittlerweile über das bloße Wiederkäuen des Komponistenworts weit hinausgeht.

Alternative Interpretationen

Die theoretischen Konzepte, die Lachenmann in seinen Texten entwickelt und die den begleitenden Diskurs durch Jahrzehnte prägen, werden im Schreiben über den Komponisten also nicht mehr unhinterfragt aufgegriffen, sondern zunehmend zum Gegenstand kritischer Auseinandersetzung gemacht. Dass es für einen solchen Kategorienwandel auch ernstzunehmende Ansatzpunkte in Lachenmanns eigenem Denken gibt, zeigt exemplarisch eine von Hiekel zitierte Äußerung des Komponisten aus dem Jahr 2003:

Es war im Grunde die Zeit eines Überdrusses an Philosophie: kein Hegel mehr, kein Adorno mehr – überall dort, wo sich der rationale Apparat noch etwas zutraut, also meint, eine Sache in den Griff zu kriegen, da wurde ich misstrauisch.90

Lachenmanns wachsendes Unbehagen gegenüber dem ›rationalen Apparat‹ führt zu theoretischen Umorientierungen, die parallel dazu auch von der Lachenmann-Literatur vollzogen werden. Dabei werden die den Diskurs ursprünglich bestimmenden Narrative nicht nur hinterfragt, sondern zunehmend durch alternative Deutungen herausgefordert. In erster Linie betrifft dies den normativen Rahmen der Frankfurter Schule: So reflektiert etwa Nyffeler, dass die Stellungnahmen Heinz-Klaus Metzgers aus den 1950er- und 1960er-Jahren ihre Diskursmacht verloren hätten und aus heutiger Sicht anders zu gewichten seien – »als eine sehr persönliche Sicht auf Dinge, die durchaus auch anders hätten beurteilt werden können.«91 Während hier die Dominanz der Kritischen Theorie angefochten wird, wirft David Lesser die Frage auf, ob Lachenmanns Musik eine adäquate Realisierung der philosophischen Konzepte von Adorno und Lukács darstelle und ob nicht andere theoretische Referenzen deren Spezifik besser erfassen würden – konkret bringt der Autor Louis Althusser ins Spiel.92 Hiekel wiederum schlägt vor, im Schreiben über Lachenmann durch diesen geprägte Begriffe wie ›Kritik‹ oder ›Verweigerung‹ durch den weniger vorbelasteten des ›Widerständigen‹ zu ersetzen.93 Ein interessantes Beispiel einer Lachenmann-Interpretation, die von Adorno ausgeht, ohne jedoch die üblichen Ableitungen hinsichtlich eines gesellschaftskritischen Musikverständnisses vorzunehmen, stellt die Analyse von Cosima Linke dar.94

Hinsichtlich der Deutungsmuster, die nunmehr in Konkurrenz zum Narrativ der Kritischen Theorie treten, sind in erster Linie Ansätze aus dem Umfeld des Poststrukturalismus zu nennen. Wie Pietro Cavallotti argumentiert, lässt Lachenmanns Poetik bereits in den 1980er-Jahren »eine signifikante Auseinandersetzung mit dem poststrukturalistischen Denken erkennen«95. Dennoch bleiben, wie Hiekel bemerkt, Referenzen auf poststrukturalistisches Denken in Lachenmanns Schriften rar:

Was in solchen Selbstbeschreibungen zu wenig vorkommt, ist die heterogene, neue Perspektiven erschießende Seite, das vielfältige Spiel mit Hörerwartungen, […] aber auch mit bildhaften Elementen innerhalb der Musik. Dabei stellen einige dieser Aspekte, vielleicht sogar mehr [sic!] als dem Komponisten selbst bewusst ist, eine Revision und Erweiterung jedes engen Moderne-Begriffs dar, eine Öffnung im Sinne poststrukturalistischen Denkens […].96

Hiekel sieht also pluralistische Ansätze, wie er sie in Lachenmanns Kompositionen Accanto, Tanzsuite mit Deutschlandlied und Mouvement umgesetzt findet und mit dem Denken eines »Jean-François Lyotard und Wolfgang Welsch, aber auch [mit] einzelne[n] Schriften des mit Lachenmann befreundeten Philosophen Albrecht Wellmer«97 in Verbindung bringt, in den Schriften des Komponisten nur ungenügend reflektiert. Hüppe weist hingegen darauf hin, dass Lachenmann bereits 1988/89 bei der Benennung seines Orchesterstücks Tableau, in welchem »heterogene, ja inkommensurable Eigenschaften von Klängen untereinander quasi modulierend in Beziehung«98 gesetzt würden, Michel Foucaults Ordnung der Dinge im Sinn gehabt habe. Kaltenecker schließlich deutet nicht nur die Tanzsuite als postmodern,99 er schlägt mit Verweis auf Jacques Rancière, Gilles Deleuze und Slavoj Žižek auch Lachenmanns verfremdendes »Neubeleuchten«100 und »Rekontextualisieren«101 von Elementen der Denkrichtung der Postmoderne zu.102 Livine van Eecke wiederum denkt Lachenmann und Lyotard zusammen, indem er am Beispiel von Ein Kinderspiel ein veränderndes Aufgreifen überkommener Formen, Materialien und Kategorien beobachtet, das er mit der (von Jacques Derrida geprägten) Figur der Dekonstruktion in Verbindung bringt.103 Der Komponist selbst bewegte sich bereits 1990 mit der Äußerung: »Wo Kunst sich nicht auf solche Weise mit dem Inkommensurablen einläßt, wo sie sich um das Spiel mit dem Nichtquantifizierbaren drückt, ist sie tot«104, in Lyotard’schen Begriffsregionen.105

Seit den späten 1990er-Jahren mehren sich in Lachenmanns Arbeiten die Bezüge zum ostasiatischen Denken, insbesondere zu den Philosoph*innen der japanischen Kyōto-Schule. Mehr noch als der Poststrukturalismus scheint die asiatische Philosophie für den Komponisten einen Ausweg aus der Sackgasse westlicher Dialektik und Rationalität zu bieten. Erstmals öffnet sich der ostasiatische Referenzraum in der 1997 uraufgeführten »Musik mit Bildern« Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, in deren zweitem Teil »An der Hauswand« die japanische Mundorgel Shō das Klanggeschehen bestimmt. Expliziert wird der Verweis in dem »Doppelkonzert mit Vokalpart«106 NUN (1997/99), einem »Parergon«107 zur Oper, wo in den Männerstimmen Auszüge aus der Abhandlung Ort des Philosophen Kitarō Nishida verarbeitet werden. Auch wenn van Eecke zu dem Schluss kommt, dass die Ästhetik auch dieser Komposition ihre Verankerung im europäischen Denken nicht verleugnen kann, sieht der Autor darin den Versuch einer Abkehr von der Hegel’schen Teleologie und der Adorno’schen Dialektik des Materials ausgedrückt, der in dem Streben nach der Erfahrung des Augenblicks, des Statischen und der reinen Gegenwart zum Ausdruck komme.108

Hiekel wiederum reklamiert für Lachenmanns Poetik den Begriff der Interkulturalität und erblickt im Fall der Musique concrète instrumentale aufgrund ihrer Verweigerung des westlichen Imperativs zur Naturbeherrschung eine Parallele zur fernöstlichen Philosophie. Er adressiert allerdings auch die Frage, »ob und inwiefern die ausschnitthafte Integration einer authentischen asiatischen Perspektive legitim ist, oder aber eine unstatthafte Äußerlichkeit, eine sozusagen ausbeuterische Attitüde«109, und berührt damit jenen Punkt, der unter dem Stichwort der kulturellen Aneignung seit den 1980er-Jahren im postkolonialen Diskurs thematisiert wird.110 Weiters problematisiert Hiekel die »Unbekümmertheit«111 von Vertreter*innen der ›neuen Musik‹ im Umgang mit nicht-westlichen Kulturen und ruft die Musikwissenschaft zur Kritik an derartigen Praktiken auf.

Hiekel zufolge zeigt Lachenmann schon früh ein kritisches Bewusstsein für das inhärente Machtgefälle, das der Verwendung ›exotischer‹ oder ›primitiver‹ Elemente durch westliche Künstler*innen im Regelfall zugrunde liegt: So tadelt dieser in dem unter dem Namen Luigi Nonos erschienenen Vortrag »Geschichte und Gegenwart in der Musik von heute« John Cages Anverwandlung ›asiatischer‹ Elemente als »Eroberung fremder Kulturen«112, die »kolonialistischem Denken«113 entspringe. Allerdings zitiert Hiekel auch Lachenmanns Metapher von der Befruchtung durch fremde Kulturen als »Vitaminzufuhr«114 für den ausgelaugten Westen, wobei die Instrumentalisierung der kulturell ›Anderen‹ für die Zwecke europäischer Künstler*innen nicht problematisiert wird. Unerwähnt bleibt auch der häufig unscharfe Gebrauch des Modeworts ›Interkulturalität‹, dem jegliche Tätigkeit, die die eigene (Herkunfts‑)Kultur überschreitet, als ›interkulturell‹ gilt – ungeachtet dessen, ob sich diese in Form eines gleichberechtigten Dialogs oder als einseitige Aneignung vollzieht. Während Ersterer unter den gegenwärtigen Machtverhältnissen als utopisch erscheinen muss, stellt Letztere in der Kultur- wie auch der Musikgeschichte des Westens eine unrühmliche Tradition dar, die etwa von Edward Said unter dem Stichwort des Orientalismus thematisiert wurde. Eine ethisch verstandene Interkulturalität kann hingegen nicht stattfinden, ohne diese bis heute nachwirkenden (und teilweise im Zuge der Globalisierung noch verschärften) Machtverhältnisse zu berücksichtigen und kritisch zu reflektieren.

Hiekel beruft sich in seinen Ausführungen auf die interkulturelle Philosophie Franz Martin Wimmers. Dieser versteht die Vorsilbe ›Inter-‹ als Verweis auf eine »gegenseitige Relation«115, einen auf dem gleichberechtigten Austausch von Vertreter*innen verschiedener Traditionen basierenden ›Polylog‹. Eine solche normativ verstandene Interkulturalität impliziert eine Begegnung auf Augenhöhe, eine Art Habermas’schen ›herrschaftsfreien Diskurs‹. Der bloße Umstand, dass westliche Künstler*innen oder Intellektuelle anderen Traditionen gegenüber ›offen‹ sind, wird von diesem ethischen Interkulturalitätsbegriff nicht umfasst. Kritisch ließe sich aus postkolonialem Blickwinkel die Frage anschließen, ob ein solches Machtgleichgewicht im Lichte der fortbestehenden globalen Ungleichheit überhaupt erreicht werden kann.116 In jedem Fall ist die Adoption ›asiatischer‹ Perspektiven sowohl in Lachenmanns Ästhetik als auch im Sprechen über ihn ein Indiz tektonischer Verschiebungen im Diskursgebäude, das allmählich die Einflusssphäre der Kritischen Theorie verlässt, womit auch seine Zuordnung zum Diskurs des Kritischen Komponierens im Verlauf der 1990er- und mehr noch der 2000er-Jahre allmählich ihre Berechtigung verliert. Dennoch finden sich nicht nur in Lachenmanns eigenen Äußerungen, sondern auch in der Sekundärliteratur nach wie vor Konstanten, die auf die Anfänge des Diskurses im Bann der Kritischen Theorie zurückverweisen.

Endnoten


  1. Böttinger, »erstarrt/befreit – erstarrt?«, S. 81, 106.↩︎

  2. Ebd., S. 95; Febel, »Zu Ein Kinderspiel und Les Consolations von Helmut Lachenmann«, S. 84-85.↩︎

  3. Böttinger, »erstarrt/befreit – erstarrt?«, S. 82.↩︎

  4. Jahn, »Pression«, S. 58, Böttinger, »erstarrt/befreit – erstarrt?«, S. 96-97.↩︎

  5. Gottwald, »Vom Schönen im Wahren«, S. 9; Böttinger, »erstarrt/befreit – erstarrt?«, S. 81-83.↩︎

  6. Jahn, »Pression«, S. 60.↩︎

  7. Eberhard Hüppe, »Über das Höhlengleichnis. Zur Ästhetik Helmut Lachenmanns«, in: MusikTexte 67-68 (Januar 1997), S. 62-67, hier S. 63.↩︎

  8. Ebd.↩︎

  9. Kaltenecker, Manches geht in der Nacht verloren, S. 72.↩︎

  10. Ebd., S. 73.↩︎

  11. Hüppe, »Über das Höhlengleichnis«, S. 63; Kaltenecker, Manches geht in der Nacht verloren, S. 72, 73; Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, S. 272 und passim.↩︎

  12. Pedro M. Rocha, »Where Does Music Start?«, in: Helmut Lachenmann – Inward Beauty, hg. von Dan Albertson (= Contemporary Music Review, Bd. 23/3-4), Abingdon 2004, S. 103-106, hier S. 103.↩︎

  13. Frank Abbinanti, »Sections of Exergue/Evocations/Dialogue with Timbre«, in: Helmut Lachenmann – Inward Beauty, hg. von Dan Albertson (= Contemporary Music Review, Bd. 23/3-4), Abingdon 2004, S. 81-90, hier S. 81.↩︎

  14. Rocha, »Where Does Music Start?«, S. 106; Elgar Schmidt, »Mahler contra Lachenmann«, in: Helmut Lachenmann – Inward Beauty, hg. von Dan Albertson (= Contemporary Music Review, Bd. 23/3-4), Abingdon 2004, S. 116-118.↩︎

  15. Rocha, »Where Does Music Start?«, S. 105; Schmidt, »Mahler contra Lachenmann«, S. 115.↩︎

  16. Als Beitrag zur englischsprachigen Lachenmann-Literatur (wenngleich von einem deutschen Autor) wäre auch der Aufsatz von Jonas Wolf, »Does ›Critical Composition‹ (Still) Exist? Reflections on the Material of New Music«, in: On_Culture 7 (2019), S. 1-19, zu nennen.↩︎

  17. Nonnenmann, »›Musik mit Bildern‹«, passim.↩︎

  18. Ebd., S. 21; Grüny, »›Zustände, die sich verändern‹«, S. 42; Hiekel, »Lachenmann verstehen«, S. 21; Nyffeler, »Himmel und Höhle«, S. 79.↩︎

  19. Jörn Peter Hiekel, »Interkulturalität als existentielle Erfahrung. Asiatische Perspektiven in Helmut Lachenmanns Ästhetik«, in: Nachgedachte Musik. Studien zum Werk von Helmut Lachenmann, hg. von Jörn Peter Hiekel u.a., Saarbrücken 2005, S. 62-84 hier S. 62; vgl. auch Mahnkopf, »Zwei Versuche zu Helmut Lachenmann«, S. 20; Livine van Eecke, »NUN?! On the Idea of the Immanent-Sublime to the Minds of Jean-François Lyotard and Helmut Lachenmann«, in: Perspectives of New Music 53 (2015), Heft 2, S. 55-64, passim.↩︎

  20. Christian Utz und Clemens Gadenstätter, »Vorwort«, in: Musik als Wahrnehmungskunst. Untersuchungen zu Kompositionsmethodik und Hörästhetik bei Helmut Lachenmann, hg. von Christian Utz u.a., Saarbrücken 2008, S. 9-10, hier S. 9.↩︎

  21. Klaus-Michael Hinz, »Lachenmann lesen. Ein Kinderspiel«, in: MusikTexte (1997), Heft 67-68, S. 2; Eberhard Hüppe, »Topographie der ästhetischen Neugierde. Versuch über Helmut Lachenmann«, in: Nachgedachte Musik. Studien zum Werk von Helmut Lachenmann, hg. von Jörn Peter Hiekel u.a., Saarbrücken 2005, S. 85-104, passim.↩︎

  22. Brinkmann, »Der Autor als sein Exeget«, S. 117.↩︎

  23. Wellmer, »Über Negativität, Autonomie und Welthaltigkeit der Musik oder: Musik als existenzielle Erfahrung«, S. 132.↩︎

  24. Nonnenmann, Angebot durch Verweigerung, S. 16.↩︎

  25. Ebd., S. 20.↩︎

  26. Mahnkopf, »Helmut Lachenmann: Concertini«, S. 59.↩︎

  27. Hiekel, »Die Freiheit zum Staunen«, S. 5-6; Schmidt, »Mozart gedenken«, S. 171.↩︎

  28. Jahn, »›Schöne Stellen‹«, S. 65.↩︎

  29. Nyffeler, »Himmel und Höhle«, S. 80.↩︎

  30. Ebd.↩︎

  31. Ebd.↩︎

  32. Hiekel, »Lachenmann verstehen«, S. 12.↩︎

  33. Ebd.↩︎

  34. Brinkmann, »Der Autor als sein Exeget«, S. 119.↩︎

  35. Hiekel, »Erfolg als Ermutigung«, S. 21.↩︎

  36. Mahnkopf, »Was heißt kritisches Komponieren?«, S. 19.↩︎

  37. Zehentreiter, »Sensory Cognition as an Autonomous Form of Critique«, S. 51.↩︎

  38. Kabisch, »Dialektisches Komponieren – dialektisches Hören«, S. 25.↩︎

  39. Martin Kaltenecker, »Hören mit Bildern«, in: Helmut Lachenmann. Musik mit Bildern?, hg. von Matteo Nanni u.a., München 2012, S. 19-37, hier S. 29; Cox, »Helmut Lachenmann als romantischer Hochmodernist«, S. 75; in Bezug auf Spahlinger vgl. Domann, »›Wo bleibt das Negative?‹«, S. 187.↩︎

  40. Cox, »Helmut Lachenmann als romantischer Hochmodernist«, S. 75.↩︎

  41. Brinkmann, »Der Autor als sein Exeget«, S. 117-118.↩︎

  42. Jahn, »Pression«, S. 60.↩︎

  43. Jahn, »›Schöne Stellen‹«, S. 62.↩︎

  44. Ebd., S. 63.↩︎

  45. Domann, »›Wo bleibt das Negative?‹«, S. 190.↩︎

  46. Mahnkopf, »Zwei Versuche zu Helmut Lachenmann«, S. 19.↩︎

  47. Nyffeler, »Sich neu erfinden, indem man sich treu bleibt«, S. 3.↩︎

  48. Nonnenmann, »Die Sackgasse als Ausweg«, S. 52.↩︎

  49. Domann, »›Wo bleibt das Negative?‹«, S. 191.↩︎

  50. Demmler, »Wo bleibt das Negative? Die neue Musik zwischen Verweigerung und Wohlgefallen«, S. 20.↩︎

  51. Ebd.↩︎

  52. Ebd.↩︎

  53. Ebd.↩︎

  54. Domann, »›Wo bleibt das Negative?‹«, S. 191.↩︎

  55. Ebd., S. 182, 188-189; Mahnkopf, Kritische Theorie der Musik, S. 34.↩︎

  56. Cox, »Helmut Lachenmann als romantischer Hochmodernist«, S. 75.↩︎

  57. Zit. n. Jörn Peter Hiekel, »Kritisches Komponieren, Glückserfahrungen und die Macht der Musik. Jörn Peter Hiekel im Gespräch mit Helmut Lachenmann, Hans-Peter Jahn, Martin Kaltenecker, Ulrich Mosch und Isabel Mundry«, in: Musik inszeniert. Präsentation und Vermittlung zeitgenössischer Musik heute, hg. von Jörn Peter Hiekel (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Bd. 46), Mainz 2006, S. 98-110, hier S. 102.↩︎

  58. Ebd.↩︎

  59. Jahn, »›Schöne Stellen‹«, S. 63.↩︎

  60. Nonnenmann, »Die Sackgasse als Ausweg«, S. 54.↩︎

  61. Ebd., S. 55.↩︎

  62. Ebd., S. 53.↩︎

  63. Kohler, »Zur politischen Dimension einer musikalischen Kategorie, oder wie ist Helmut Lachenmanns ›musique concrète instrumentale‹ satztechnisch zu verstehen«, S. 115.↩︎

  64. Hiekel, »Interkulturalität als existentielle Erfahrung«, S. 83.↩︎

  65. Zit. n.: Demmler, »Wo bleibt das Negative? Die neue Musik zwischen Verweigerung und Wohlgefallen«, S. 23.↩︎

  66. David Lesser, »Dialectic and Form in the Music of Helmut Lachenmann«, in: Helmut Lachenmann – Inward Beauty, hg. von Dan Albertson (= Contemporary Music Review, Bd. 23/3-4), Abingdon 2004, S. 107-114, hier S. 108-113.↩︎

  67. Hiekel, »Die Freiheit zum Staunen«, S. 6-7.↩︎

  68. Cosima Linke, Konstellationen. Form in neuer Musik und ästhetische Erfahrung im Ausgang von Adorno. Eine musikphilosophische und analytische Untersuchung am Beispiel von Lachenmanns »Schreiben. Musik für Orchester«, Mainz 2018.↩︎

  69. Pietro Cavallotti, Differenzen. Poststrukturalistische Aspekte in der Musik der 1980er Jahre am Beispiel von Helmut Lachenmann, Brian Ferneyhough und Gérard Grisey, Schliengen 22002, S. 9.↩︎

  70. Hiekel, »Die Freiheit zum Staunen«, S. 22.↩︎

  71. Ebd., S. 23.↩︎

  72. Hüppe, »Helmut Lachenmann«, S. 51.↩︎

  73. Martin Kaltenecker, Avec Helmut Lachenmann, Paris 2001, S. 200; vgl. dazu Hüppe, »Helmut Lachenmann«, S. 35.↩︎

  74. Martin Kaltenecker, »Helmut Lachenmann und das ›kritische Orchester‹«, in: Musik inszeniert. Präsentation und Vermittlung zeitgenössischer Musik heute, hg. von Jörn Peter Hiekel (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Bd. 46), Mainz 2006, S. 47-58, hier S. 57.↩︎

  75. Ebd.↩︎

  76. Ebd., S. 56-58.↩︎

  77. Van Eecke, »NUN?! On the Idea of the Immanent-Sublime to the Minds of Jean-François Lyotard and Helmut Lachenmann«, S. 56; van Eecke, »The Adornian Reception of (the) Child(hood) in Helmut Lachenmann’s ›Ein Kinderspiel‹«, S. 226.↩︎

  78. Lachenmann, »Zum Problem des Strukturalismus«, S. 90.↩︎

  79. Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht (= Edition Passagen, Bd. 7), Wien 1993, S. 16.↩︎

  80. Hüppe, »Helmut Lachenmann«, S. 71.↩︎

  81. Helmut Lachenmann, NUN [Werkeinführung], https://www.breitkopf.com/work/3889 (Zugriff am 22. Oktober 2020).↩︎

  82. Van Eecke, »NUN?! On the Idea of the Immanent-Sublime to the Minds of Jean-François Lyotard and Helmut Lachenmann«, passim.↩︎

  83. Hiekel, »Interkulturalität als existentielle Erfahrung«, S. 68.↩︎

  84. O. V., »Cultural Appropriation«, in: Oxford Reference, https://www.oxfordreference.com/view/10.1093/oi/authority.20110803095652789 (Zugriff am 22. Oktober 2020).↩︎

  85. Hiekel, »Interkulturalität als existentielle Erfahrung«, S. 63.↩︎

  86. Helmut Lachenmann, »Geschichte und Gegenwart in der Musik von heute« [1960], in: MaeE3, S. 311-316, hier S. 314.↩︎

  87. Ebd.↩︎

  88. Zit. n. Hiekel, »Interkulturalität als existentielle Erfahrung«, S. 64; Gespräch mit dem Autor.↩︎

  89. Franz Martin Wimmer, »Thesen, Bedingungen und Aufgaben einer interkulturell orientierten Philosophie«, in: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 2 (1998), Heft 1, S. 5-12, hier S. 10.↩︎

  90. Vgl. etwa Hito Steyerl und Encarnación Gutiérrez Rodríguez, »Einleitung«, in: Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, hg. von Hito Steyerl u.a., Münster 22012, S. 7-16, hier S. 9. Kritik am Konzept des herrschaftsfreien Diskurses kommt auch von Vertreter*innen der älteren Kritischen Theorie: Frank Buhren, Zur Kritik der kommunikativen Vernunft. Gesellschaft, Vernunft und Sprache in Jürgen Habermas’ Theorie der Moderne, Berlin 2009, S. 79-80.↩︎