7.1 Szenen und Milieus: Terminologie kultureller Vergemeinschaftung im Zeichen der Lebensstilforschung



7 Das soziale Feld der ›neuen Musik‹

In den vorigen Kapiteln wurden verschiedene Aspekte des Diskurses um das Kritische Komponieren beleuchtet, wobei die Texte Helmut Lachenmanns im Zentrum der Aufmerksamkeit standen. Auf den folgenden Seiten wird unterdessen der Versuch unternommen, diesen Diskurs in seinem sozialen Kontext zu verorten, um neben den diskursinternen auch die externen Bedingungen seiner Entstehung und Entwicklung darzustellen. Ihre Wirkmacht entfalten Diskurse erst in Interaktion mit sozialen Praktiken und Strukturen, auf die sie reale Auswirkungen haben.

Die hier angestrebte Verknüpfung von Diskurs und Gesellschaft basiert auf dem Diskursbegriff der CDA, der – anders als manche Adaptionen des Foucault’schen Diskursbegriffs – nicht die gesamte soziale Realität als diskurs­immanent versteht.1 Stattdessen wird die Geltung des Begriffs auf jene Zeichensysteme begrenzt, mittels derer die Realität interpretiert wird, und erscheint daher – neben materiellen, institutionellen und anderen Faktoren – lediglich als eine unter mehreren Komponenten des Sozialen, die dieses beeinflussen und zugleich von ihm beeinflusst werden.2 In der CDA nimmt folglich – neben der Analyse des Textuellen im engeren Sinn – die Untersuchung des sozialen Kontexts eine herausragende Stellung ein. Auch in der historischen Diskursanalyse nach Achim Landwehr gilt die Kontextanalyse als gleichwertiger Bestandteil der Untersuchung.3 Ziel dieses Kapitels ist es daher, der Darstellung der Akteur*innen eine Außenperspektive gegenüberzustellen und dabei etwaige ideologische Momente jener Selbstsicht transparent zu machen, was eine Beschäftigung mit dem sozialen Umfeld nötig macht. Da die hierzu erforderlichen umfangreichen empirischen Untersuchungen den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden, stütze ich mich dabei auf die bislang vorliegenden sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Feld der ›neuen Musik‹.

7.1 Szenen und Milieus: Terminologie kultureller Vergemeinschaftung im Zeichen der Lebensstilforschung

2010 widmet die Neue Zeitschrift für Musik unter dem Titel »Soziotop Neue Musik« einen Schwerpunkt den sozialen Formationen rund um zeitgenössische Kunstmusik.4 Winfried Gebhardt greift darin den Szenebegriff auf, wie er 1991 von Gerhard Schulze in Die Erlebnisgesellschaft ins Spiel gebracht wird. Schulze definiert Szenen als temporäre und instabile Formen der Vergemeinschaftung, die durch personelle, lokale und inhaltliche Merkmale verbunden werden.5 Ronald Hitzler u.a. arbeiten dieses Konzept in Bezug auf Jugendkulturen aus, in denen sie posttraditionale, auf Individualisierung basierende Sozialisationsformen erblicken, die »bestimmte materiale und/oder mentale Formen der kollektiven Selbststilisierung teilen und Gemeinsamkeiten an typischen Orten und zu typischen Zeiten interaktiv stabilisieren und weiterentwickeln.«6

Auch wenn sich der Szenebegriff primär zur Beschreibung jugendkultureller Ver­gemein­schaftungs­formen etabliert hat, wurde er auch für die Analyse von Phänomenen der ›Hochkultur‹ nutzbar gemacht. Zur Illustration seiner Taxonomie urbaner Szenen führt Schulze denn auch die »Hochkulturszene«7 ins Treffen, die er durch ein beharrliches Festhalten an bürgerlichen Traditionen wie etwa einem Kanon zeitloser Werke und einer Verankerung in historisch gewachsenen Bauwerken mit sakraler Aura gekennzeichnet sieht. Besonders hebt Schulze den ungewöhnlichen Vergangenheitsbezug der Hochkulturszene hervor, deren Ritualen er eine bemerkenswerte Widerstandskraft gegenüber kulturellen Veränderungen attestiert.8 Als kennzeichnend für diese Rückwärtsgewandtheit nennt er den zeremoniellen Charakter, die kontemplative Rezeptionshaltung und generell die strikte Normierung hochkultureller Akte.9 In Anlehnung an Schulze definiert Gebhardt Szenen im Bereich der ›neuen Musik‹ als »ästhetisch orientierte soziale Netzwerke«10, die thematisch fokussiert sind und über ein eigenes Wissen sowie eine eigene Kultur verfügen. Mit Hitzler u.a. charakterisiert er Szenen als »Teilzeit-Vergemeinschaftungen«11, die auf einen begleitenden Diskurs angewiesen sind.12 Als spezifische Ereignisform der Szene bestimmt Gebhardt das »Event«.13

Schulze verbindet den Szenebegriff mit dem von Stefan Hradil geprägten Konzept sozialer Milieus.14 Schulze fasst unter diesem Begriff »Personengruppen, die sich durch gruppenspezifische Existenzformen und erhöhte Binnenkommunikation voneinander abheben«.15 Die Milieuzugehörigkeit wird nicht durch den sozio-ökonomischen Hintergrund determiniert, sondern erfolgt aufgrund einer freiwilligen »Beziehungswahl«16 der Individuen.17 Damit unterscheidet sich das Milieu von traditionellen Termini der Sozialstrukturanalyse wie dem Klassen- oder Schichtbegriff, die mit der Vorstellung von Stabilität, einer hierarchischen Anordnung sowie der äußeren Determinierung von Großgruppen (etwa auf der Grundlage von Vermögen, Einkommen oder Bildung) einhergehen. Das Aufgreifen des Milieubegriffs durch Schulze lässt sich als Indiz für einen Paradigmenwechsel in der Soziologie verstehen, der durch die Abkehr von derartigen als statisch empfundenen Konzepten geprägt war – so beschwor Ulrich Beck 1983 in seinem gleichnamigen Aufsatz eine Gesellschaft ›jenseits von Stand und Klasse‹. Mit seinem Namen ist auch das Individualisierungstheorem verbunden, das von einer Loslösung der Einzelnen aus traditionellen Identifikations- und Ordnungsschemata ausgeht. ›Objektive‹ Bedingungen und ›subjektive‹ Lebensweise sind dieser Annahme zufolge weitgehend entkoppelt.18 Dementsprechend bewertet auch Schulze den Einfluss von Einkommensverhältnissen auf die Lebensführung als marginal und sieht ihn durch die Möglichkeit, mehr noch: die Pflicht zur eigenen Entscheidung ersetzt.19

Trotz seines Siegeszugs im Zuge der Lebensstilforschung ist das Individualisie­rungs­theorem jüngst in die Kritik geraten. So bemerkt Gunnar Otte, dass die Individualisierungsthese und die damit verbundene Annahme einer Entkoppelung von Klassenlage und Lebensstil zwar »häufig unterstellt, aber nicht nachgewiesen werden.«20 Wie er anhand eines Vergleichs des Musikgeschmacks von Jugendlichen von den 1950er- bis in die 2000er-Jahre zeigt, ist der behauptete Wandel von klassengeprägten hin zu herkunftsunabhängigen Präferenzen nicht zu beobachten. Vielmehr weisen die Geschmäcker innerhalb sozialer Klassen21 sowie der Einfluss von Bildung auf den Musikgeschmack über die Jahrzehnte eine weitgehende Kontinuität auf.22

Endnoten


  1. Fairclough, Wodak, »Critical Discourse Analysis«, S. 258-259.↩︎

  2. Chouliaraki, Fairclough, Discourse in Late Modernity, S. 19, 28.↩︎

  3. Landwehr, Historische Diskursanalyse, S. 105.↩︎

  4. NZfM 171 (2010), Heft 5.↩︎

  5. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, S. 463.↩︎

  6. Ronald Hitzler, Thomas Bucher und Arne Niederbacher, Leben in Szenen. Formen jugendlicher Vergemeinschaftung heute (= Erlebniswelten, Bd. 3), Opladen 2001, S. 20.↩︎

  7. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, S. 475.↩︎

  8. Vgl. dazu Henschel: »Man wird darin eine Fortsetzung bildungsbürgerlicher Strategien und Mechanismen sehen dürfen, doch muss man sich auch der Frage stellen, wie sich angesichts der sozialen Umwälzungen der letzten 200 Jahre solche Strukturen halten konnten.« Hentschel, Neue Musik in soziologischer Perspektive, S. 15.↩︎

  9. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, S. 476.↩︎

  10. Winfried Gebhardt, »Soziotop oder Szene? Die soziale Gestalt der neuen Musik«, in: NZfM 171 (2010), Heft 5, S. 20-28, hier S. 23.↩︎

  11. Ebd.↩︎

  12. Ebd.↩︎

  13. Ebd., S. 24.↩︎

  14. Vgl. Stefan Hradil, Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft. Von Klassen und Schichten zu Lagen und Milieus, Wiesbaden 1987.↩︎

  15. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, S. 174.↩︎

  16. Ebd., S. 177.↩︎

  17. Vgl. Gebhardt, »Soziotop oder Szene?«, S. 23.↩︎

  18. Ulrich Beck, »Jenseits von Stand und Klasse?«, in: Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, hg. von Ulrich Beck u.a., Frankfurt a.M. 92015, S. 43-60; vgl. Nicole Burzan, Soziale Ungleichheit. Eine Einführung in die zentralen Theorien (= Studientexte zur Soziologie), Wiesbaden 42011, S. 157.↩︎

  19. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, S. 177.↩︎

  20. Gunnar Otte, »›Klassenkultur‹ und ›Individualisierung‹ als soziologische Mythen? Ein Zeitvergleich des Musikgeschmacks Jugendlicher in Deutschland, 1955-2004«, in: Individualisierungen. Ein Vierteljahrhundert »jenseits von Stand und Klasse«?, hg. von Peter A. Berger u.a., Wiesbaden 2010, S. 73-95, hier S. 77.↩︎

  21. Mit ›Klassen‹ sind – in Anlehnung an Bourdieu und Reckwitz – gesellschaftliche Großgruppen gemeint, die sich durch Art und Ausmaß materieller und kultureller Ressourcen sowie durch ihre Position innerhalb der gesellschaftlichen Machtverhältnisse unterscheiden, wobei sowohl ökonomische und soziale als auch habituelle und symbolische Faktoren eine Rolle spielen. Vgl. Boike Rehbein, Christian Schneickert und Anja Weiß, »Klasse (classe)«, in: Bourdieu-Handbuch, hg. von Gerhard Fröhlich u.a., Stuttgart 2009, S. 140-147; Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Frankfurt a.M. 2019, S. 65-68.↩︎

  22. »Das gemäß der Individualisierungsthese erwartete Abschmelzen der Bildungsdifferenzen ist nicht beobachtbar.« Otte, »›Klassenkultur‹ und ›Individualisierung‹ als soziologische Mythen?«, S. 85. Vgl. zur Kritik am Individualisierungstheorem auch Gerhard Stapelfeldt, »Kritik des soziologischen Individualisierungstheorems (Ulrich Beck)«, in: Kritiknetz – Zeitschrift für kritische Theorie der Gesellschaft (2014), https://www.kritiknetz.de/ (Zugriff am 24. Oktober 2020), S. 1-9.↩︎