Von der Vielfalt der Klänge: Stör- & Nebengeräuschunterweisungen für Heil- & Lehranstalten.
2 × 7 Schrift-Schnitt-Bilder zur Situation (nicht nur) der Neuen Musik. Ein monologisierender Dialog.

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° I) Ein- & Aussichten:

Eltern haften für ihre Kinder.
§ 1309 ABGB (Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch, Österreich)

Renald Deppe:

Ohren haften für ihre Köpfe.
Köpfe haften für ihre Ohren.
§ 1 (Zur Selbsthilfe bei kritischen Zu-, Auf-, Um-, Ab-, Außen-, An-, Hoch-, Tief-, Not-, Rück- & Gleichständen)

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° II) Un- & Freigeister:

„Wer seine Geschichte nicht kennt, ist verdammt, sie zu wiederholen.“
Ernst Bloch

Renald Deppe:

Freigeister (und dieser rar gewordenen Spezies sollten wir doch – nicht nur an den Universitäten – zahlreich begegnen dürfen) erzählen uns Geschichten über unsere Geschichte.

Über unsere Kultur-, Kunst-, Wirtschafts-, Militär-, Religions-, Politik- und Sozialgeschichte, über Welt-, Landes- und Regionalgeschichte: über die Geschichte der Menschheit, welche stets auch ein Teil unserer Personengeschichte ist. Dieses Erinnern an unsere Geschichte erfordert vor allem Zivilcourage. Diese ist nicht jedem gegeben. Und auch darum gibt es so wenig Freigeister. Und so viele angeblich Freie, so viele servil-zivile Geister.

„Die Zivilcourage beginnt damit, dass einer die jeweils besondere Situation gegen die übermächtige Tendenz zur Homogenität, zur Normalität, zur Linearität verteidigt, ja sogar, dass er sie als ‚besondere‘ wahrnimmt … Zivilcourage erscheint als das Wagnis respektlosen Denkens, das sich dem majoristischen Druck der Normalität, den geordneten Verhältnissen, der bröckligen Glätte des Funktionierens, entgegenwirft … Er ist eben ein Dissident, und sein Mut ist der eines einsam wandelnden Nashorns …“

Dies schrieb 1979 immerhin ein deutscher Universitätsprofessor, welcher 1977 aus politischen Gründen (Buback-Affäre) vom Dienst suspendiert wurde. Ein Jahr vor seinem Tod (Herzversagen) im Jahre 1982 wurden alle Disziplinarmaßnahmen gegen ihn aufgehoben. Es handelt sich um den Sozialpsychologen und Psychoanalytiker Peter Brückner. Suchen sollten wir die Begegnung all jener (mehr oder weniger) einsam wandelnden Nashörner mit ihren Geschichten über Geschichte, damit (nicht nur) all die mdw-Zeit- & Leidgenoss_innen im Besonderen und ihre kulturellen Bezugs- und Umfelder im Allgemeinen nicht verdammt werden, so manche dieser freud- & trostlosen Geschichten zu wiederholen (und das meint: nicht nur die Geschichte des 20. Jahrhunderts).

Geschichten von Ständchen und Standpauken, Geschichten aus der heute oftmals so nahen Ferne & der fernen Nähe, Geschichten über vermeintliche Siege, folgenlose Erfolge & erfolgreiche Folgen, Geschichten über Botschaften der Liebe, Hiebe und Siebe (… denn: die Löcher sind die Hauptsache an einem Sieb) und über den weiten Horizont am und das Öl auf und die sterbende Welt im Meer, über Aufenthalt und Verbleiben vieler ein-, zu-, ab- und ausreisenden Wanderer, über die vielen respekt- & gottlosen Glücks-, Kreuz- & Halbmondritter, Geschichten über das große und kleine Abschiednehmen, welches auch Leben genannt wird …

Als es noch Fürsten-, Königs- und Kaiserhäuser und dunkle Zeiten gab, hatten es zumindest die Freigeister als Hofnarren (vielleicht) etwas leichter. Vielleicht. Unsere demokratisch gewählten Fürst_innen mit all ihren börsennotierten Vorstandskaiser_innen in ihren diversen Karten- & Lusthäusern scheinen bekennende Narren & Närrinnen nicht zu benötigen. Welch ein fataler Irrtum!

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° III) Selbst- & Fremdbestimmung:

„Die Kultur muss beim Zeitgenössischem und Dokumentarischen, beim Wirklichen beginnen, um dann – wenn es angebracht ist – zu den Klassikern vorzudringen. Fehler des Humanismus: Bei den Klassikern zu beginnen. Das gewöhnt ans Irreale, an die Rhetorik und am Ende an die zynische Verachtung der klassischen Kultur – schließlich hat sie uns ja nichts gekostet, und wir haben ihren Wert nicht gesehen. (das Zeitgenössische, das sie zu ihrer Zeit hatten)“
Cesare Pavese (Aus: Das Handwerk des Lebens, Tagebuch 1935–1950)

Renald Deppe:

Das (Musik-)Studium sollte beim Wirklichen beginnen: Sollte folglich sowohl den angeblichen Traditionen wie dem vorgeblich Zeitgenössischen diskursiv begegnen. Alles andere wäre Irreal. Und zynisch. Die Berufsbilder der Gegenwart aller Komponist_innen und Musiker_innen mit ihren vielgestaltigen Anforderungen sind ständig einem Wandel unterzogen. Diesen gilt es frühzeitig aufzuspüren und im Ausbildungskanon der Universitäten sinnvoll zu berücksichtigen: sind doch viele Curricula noch dem museal irrealen Kultur- & Geistesleben des 19. Jahrhunderts verpflichtet.

Auch sollte eine (Kunst-)Universität nicht nur den (vielleicht auch oftmals fragwürdigen) kulturbetrieblichen Anforderungen der Gegenwart genügen: sollte auch dem Zukünftigen Raum und Beachtung geben: sollte sich also stets eigenbestimmt neu definieren, neu erfinden. Alles andere wäre Irreal. Und zynisch.

Nichts vernichtet Gaben & Talente, Motivation und das Staunen eines (jungen) Menschen so umfassend und nachhaltig wie pragmatisiertes Phlegma & institutionelle Ignoranz.

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° IV) Raum- & Denkmalpflege:

1. Der Traditionsbegriff setzt ein Mindestmaß an Kontinuitätsbewusstsein in einer intakten Gesellschaft voraus.

2. Die Krisen im Zusammenhang mit der Entwicklung der industriellen Massengesellschaft in diesem Jahrhundert haben diese Kontinuität zerstört.

3. Das bürgerliche Denken ist den neu erschlossenen Aufgabenstellungen dieser Wirklichkeit nicht gewachsen. Es schützt sich durch ein breit entwickeltes System von Verdrängungsmechanismen, welche die Isolation, Entfremdung, Angst und Sprachlosigkeit des Individuums überspielen sollen.

4. Unser Kulturbetrieb ist ein wesentlicher Teil dieses Verdrängungssystems. In diesem Sinn hat er die Tradition in Beschlag genommen: Die Illusion einer in Wirklichkeit längst verlorenen gemeinsamen Verständigungsbasis bewahrt er durch die Konservierung und Fetischisierung historischer ästhetischer Kategorien und daran gebundener Wertvorstellungen …

6. Tradition, so von jenen Verdrängungsbedürfnissen einer anachronistisch verharrenden (kulturellen) Öffentlichkeit in Beschlag genommen, hat damit ihren lebendigen Sinn verloren … (In der Tradition wurzeln, heißt kaum viel mehr als in der Tradition wursteln.)

7. Als Synonym für tabuisierte Konvention bildet Tradition heute einen verräterischen Teil unserer Wirklichkeit. Sie ist zu einem latenten Gefängnis geworden.

8. In ihren Werken verkörpert diese Tradition aber zugleich jene historischen Beispiele und künstlerischen Erfahrungen, auf die sich Ausbruchsversuche aus diesem Gefängnis berufen könnten, wenn sie überhaupt einer Rechtfertigung bedürfen. Der obligate Widerstand des Schöpferischen gegen die Vorwegbestimmung der verfügbaren Mittel, das damit verbundene unvermeidliche Ärgernis oder gar der Schock einer am verwalteten Objekt praktizierten Freiheit als unerbetene Erinnerung und Mahnung an zu praktizierende Freiheit lassen sich als das eigentliche Movens der Kunst durch die Geschichte bis heute nachweisen.

Diese latente Tradition gilt es offenzulegen und in ihrem Widerspruch zur landläufigen Traditionspflege bewusst zu machen.
Helmut Lachenmann

Renald Deppe:

Wie vielleicht keine andere (Musik-)Universität ist die mdw den zahlreichen hier vor Ort angesiedelten Traditionsbegriffen ausgeliefert und verpflichtet, ausgesetzt und verbunden. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Werten um- & eingebildeter Traditionsparadigmen, lust- & frustspendenden Traditionslegitimationen, grauen- & sinnvollen Traditionsvorgaben, geist- & verlustreichen Traditionspfründen ist folglich unabdingbar. Nicht nur in Wien mutieren zumeist unreflektierte Traditionsbegriffe zur ästhetischen wie handwerklichen Norm.

Erzeugen und legitimieren unsägliche Banalitäten, sind kritik- & reformresistent und erinnern fatal an lebenslänglich vergebene Direktmandate: seien diese nun politisch, klerikal oder akademisch begründet. „Ein akademisch gebildeter, mittelmäßig begabter Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass er das Praktisch-Zweckmäßige erlernt hat und dass er Hören des inneren
Klanges verloren hat.“

Dieser wahrhaft widerständige wie ungemein irritierende Satz Wassily Kandinskys, freischaffender (Bauhaus-) Künstler und wohlverantwortet agierender Vermittler befreiender Denk- und Lebensmodelle, verdeutlicht auch das Bemühen vieler Ton- und Zeichensetzer bei der Erzeugung, Verschriftung und Vermittlung von akustischen Ereignissen: Wie ermöglicht man das Wesentliche: Das Hören der inneren Klänge.

Ungeachtet aller normativen Vorgaben, ungeachtet der Dominanz des jeweils Angesagten, ungeachtet der Klaustrophobie & Lähmung erzeugenden Käfige mit all ihren diversenschwer- & leichtgewichtigen Traditionen. Doch stets unter Beachtung der Fähigkeit zur Selbstkritik, der Wahrnehmung von Mit- & Eigenverantwortung und der Kenntnis einer ungemein beglückenden Tatsache: Bildung, Wissen, Fähig- & Fertigkeiten sind und waren niemals vom Besuch universitärer Anstalten abhängig.

Im besten Fall verhindern, schaden, zerstören & zermürben diese nicht: sind hilf- & lehrreich … : doch: das ist fast schon eine Utopie. Zumindest eine permanent beruflich wie menschliche Herausforderung für alle Lehrenden. Welche auch stets Lernende sind. Ich bin. Wir sind. Das ist (kann) genug (sein).

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° V) Tag- & Handwerk:

„Das Schicksal des Kunstwerks ist die kühle Ewigkeit des Museums; das Schicksal des industriellen Gegenstands ist der Müllhaufen. Der Gegenstand des Handwerks entgeht dem Museum, und wenn er zufällig in seine Vitrinen gerät, weiß er sich wohl zu behaupten: Er ist kein Einzelstück, er ist ein Muster. Er ist ein gefangenes Exemplar, kein Idol. Das Handwerk geht nicht mit der Zeit und will sie auch nicht besiegen. Die Indezenz des Mülls ist nicht weniger pathetisch als die falsche Ewigkeit des Museums. Der Gegenstand des Handwerks will weder Jahrtausende dauern, noch ist er davon besessen, bald zu vergehen. Er vergeht mit der Zeit, begleitet unser Leben, nutzt sich allmählich ab, sucht nicht den Tod, aber negiert ihn auch nicht: er nimmt ihn hin. Zwischen der zeitlosen Zeit des Museums und der beschleunigten Zeit der Technik ist der Gegenstand des Handwerks das Pulsieren der menschlichen Zeit.“
Octavio Paz

Renald Deppe:

Nicht die vermeintliche Ewigkeit des Museums,nicht die Jahrtausende überdauernden genuinen Eingebungen auserlesener Protagonist_innen für elitär-kultmusikalische Weihe- & Produktionsstätten: sondern die (vielleicht) vergängliche Wahrheit des Augenblicks steht im Mittelpunkt des Pulsierens der menschlichen Zeit.

Nicht die geistigen wie materiellen Müllhaufen diverser Ver-, Aus- und Entwertungsgesellschaften sollten ein verantwortetes Handeln bestimmen, sollten die relevanten Bedürfnisse der (Kultur-) Schaffenden korrigieren: sondern die Möglichkeiten des menschlichen Seins, sprich: die Qualitäten des Scheiterns.

Um jene kostbaren Qualitäten einer Makulatur, des Schad- & Fehlerhaften, der Makel & Debakel auch positiv befreiend zu erkennen, zu erfahren und zu verarbeiten, bedarf es des Handwerks.

Bedarf es der Achtung und Wertschätzung des Handwerks im weitesten Sinn: als Kontrapunkt zu den künstlerischen Verwerfungen eines sich immer mehr beschleunigenden Zeiterleben, als beruhigte Orientierungsinsel innerhalb der unerbittlich anwachsenden Informations-, Publikations-, Interpretations-, Spekulations- und Konzeptionsfluten zeitgeistiger Kunsttempel samt all den unaufhörlich um Selbstreferenz bemühten Kulturbetriebs- & Ausbildungsfabriken.

Und an dieser Stelle ist bitte nicht zu vergessen: schließlich durfte, musste, konnte, vermochte Joseph Haydn u. a. 107 Sinfonien, 68 Streichquartette, 24 Opern, 14 Messen, 46 Klaviertrios, 126 Barytontrios und 52 Klaviersonaten zu komponieren. Um seine Arbeiten kontinuierlich immer gültiger zu vervollkommnen.)

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° VI) Kenn- & Sternzeichen:

„Ich spreche mit meiner Hand, du hörst mit deinen Augen.“
Shi Tao

Renald Deppe:

Ich spreche mit meiner Hand, du hörst mit deinen Augen.
Du handelst mit deiner Sprache, ich sehe mit meinen Ohren.
Ich spreche mit meinen Ohren, du siehst mit deiner Hand.
Du siehst mit deiner Sprache, ich handle mit meinen Ohren.
Ich spreche mit meinen Ohren, du hörst mit deiner Hand.
Du hörst mit deiner Sprache, ich handle mit meinen Ohren.

Ich handle mit meiner Sprache, du siehst mit deinen Ohren.
Du sprichst mit deiner Hand, ich höre mit meinen Augen.
Ich handle mit meinen Augen, du hörst mit deiner Sprache.
Du hörst mit deiner Hand, ich spreche mit meinen Augen.
Ich handle mit meinen Augen, du siehst mit deinen Ohren.
Du siehst mit deiner Hand, ich höre mit meiner Sprache.

Ich höre mit meinen Augen, du handelst mit deiner Sprache.
Du siehst mit deinen Ohren, ich spreche mit meiner Hand.
Ich höre mit meiner Hand, du sprichst mit deinen Augen.
Du sprichst mit deinen Ohren, ich sehe mit meiner Hand.
Ich höre mit meiner Hand, du handelst mit deinen Augen.
Du handelst mit deinen Ohren, ich sehe mit meiner Sprache.

Ich sehe mit meinen Ohren, du sprichst mit deiner Hand.
Du hörst mit deinen Augen, ich handle mit meiner Sprache.
Ich sehe mit meiner Sprache, du handelst mit deinen Ohren.
Du handelst mit deinen Augen, ich höre mit meiner Sprache.
Ich sehe mit meiner Sprache, du sprichst mit deinen Ohren.
Du sprichst mit meinen Augen, ich höre mit meiner Hand.

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° VII) Ab- & Anwesenheit:

„Ein guter Wanderer lässt keine Spur zurück.“
Laotse

Renald Deppe:

Eine gute Spur lässt keinen Wanderer zurück.

 

Sämtliche grafischen Notationen stammen vom Autor Renald Deppe.

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