Das Lesen der Tricky Moments kann für Personen mit Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen (Rassismus, Sexismus, Ableismus, etc.) (re-) traumatisierend wirken, da sie Inhalte zu grenzüberschreitenden Äußerungen sowie Handlungen in Lehr_Lernsituationen thematisieren. Der vorliegende Tricky Moment ist eine fiktive Situation, die sich an reale Erfahrungen anlehnt.

Plan B

Hier geht es um:

Karriere
Klasse/Herkunft
Prüfungssituation

Situationsbeschreibung

Zulassungsprüfung*: Im Raum befindet sich neben dem Studienwerber die mehrköpfige Prüfungskommission, bestehend aus Professor_innen verschiedener Fachbereiche. Der Studienwerber hat bereits den schriftlichen und praktischen Teil erfolgreich hinter sich gebracht und ist im letzten Teil der Prüfung zu einem abschließenden Gespräch geladen. Hier soll es um Kanon, Repertoirekunde und die eigene Motivation für die Studienwahl gehen. Der Kandidat spricht über seine Aktivitäten im lokalen Kulturverein, seine musikalischen Vorbilder und seine Karrierevorstellungen. Aufgrund einer Nachfrage äußert er sich auch über seinen Plan B, sollte es mit der Aufnahme zum Studium nicht klappen. Abschließend gibt eine Prüfungsperson folgenden Rat: „Um sich voll und ganz auf das Studium konzentrieren zu können, müssen Sie unbedingt nach Wien ziehen. Dann können Sie auch regelmäßig Konzerte und wichtige kulturelle Angebote besuchen, in Bibliotheken gehen und sich mit anderen Studierenden austauschen und treffen. Am besten, Sie suchen sich eine Wohnung in einem der inneren Bezirke, vielleicht gemeinsam mit anderen kulturell interessierten Studierenden.“

Was ist passiert?

Die Situation aus verschiedenen Perspektiven

Der Studienwerber wird neben prüfungsrelevanten Inhalten zu seiner Lebenssituation befragt. Diese Frage beinhaltet per se klassistische Aspekte, weil sie auf Informationen zum privaten Lebensentwurf sowie zu sozio-ökonomischen und bildungsrelevanten Details abzielt. Durch den Ratschlag wird eine subtile klassistische Bewertung vorgenommen, die aber unkonkret ist, so dass man sie schwer greifen kann.

Die Frage der Prüfungskommission nach alternativen beruflichen Vorstellungen wird bewusst gestellt und zielt darauf ab, die Ernsthaftigkeit der Bewerbung und die geradlinigen Karrierevorstellungen herauszufinden. Ein Plan B könnte zu einer schlechteren Bewertung des Studienwerbers führen, da dieser nicht dem Idealbild von (Kunst)Studierenden an der Universität entspricht, von denen zumeist volle Fokussierung auf das Studium, zeitliche Verfügbarkeit und Höchstleistungen erwartet wird.

Das Kommissionsmitglied spricht aus einer privilegierten Position und erteilt dem Studienwerber einen Rat, der grenzüberschreitend gegenüber dessen Privatsphäre ist und klassistische Aspekte beinhaltet.

Nachdem der Prüfungskandidat über seinen Plan B Auskunft gegeben hat, erhält er ungefragt einen Rat, der sich auf seine private Lebenssituation bezieht. Er ist sich nicht mehr sicher, ob es eine kluge Idee war, Auskunft über alternative berufliche Entscheidungen gegeben zu haben. Durch den Ratschlag fühlt er sich unter Druck gesetzt und hat den Eindruck, dass sein bisheriger Lebensweg nicht in das Bild des idealen (Kunst)Studierenden an der Universität passt.

Prüfungssituation

In jedem Prüfungssetting, insbesondere bei der Zulassungsprüfung*, klaffen die ungleichen hierarchischen Positionierungen der Anwesenden weit auseinander: während die Entscheidungsmacht bezüglich Ablauf, inhaltlicher Fragen, Prüfungsmodus, Aufnahme, Studienerfolg, etc. ausschließlich bei den Kommissionsmitgliedern / Prüfenden liegt, befindet sich der_die Prüfungskandidat_in in einer extrem unsicheren und vulnerablen Position.

* Allen ordentlichen sowie den meisten außerordentlichen Studien an der mdw geht eine Zulassungsprüfung voraus (ausgenommen wissenschaftliche Doktoratsstudien). Diese variieren je nach Fach in der Zusammensetzung der Prüfungskommission, Ablauf und Inhalt.

Welche Begriffe, Konzepte und Vorstellungen spielen hier eine Rolle?

Folgende Begriffsbeschreibungen kommen aus den Glossaren "Lehr- und Lernmaterial für eine diskriminierungskritische Praxis an der Schnittstelle Bildung / Kunst" von Carmen Mörsch und "Gender- und Diversityportal" der Universität Freiburg

Erstakademiker_in/ first generation student Der Begriff first-generation students (engl. für: Studierende der ersten Generation) bezeichnet Studierende, die als Erste in ihrer Familie ein Hochschulstudium aufgenommen bzw. abgeschlossen haben. https://www.vielfalt.uni-freiburg.de/Lehre/Glossar#F
Klassismus, klassistische Diskriminierung »Dieser Begriff bezeichnet die systematische Diskriminierung auf Grundlage der sozio-ökonomischen Position oder Herkunft einer Person oder Gruppe. Klassismus richtet sich überwiegend gegen Menschen aus ›niedrigeren‹ Klassen. Das betrifft insbesondere Arbeiter*innen (›working class‹) und arme Menschen. Bestimmte Werte und Fähigkeiten werden dabei sozialen Klassen zugeordnet. Dabei werden der working class in aller Regel negative Aspekte zugeschrieben.« https://diskrit-kubi.net/glossar/#K
Privilegiertheit »[…] ist ein Recht, ein Vorteil oder eine Sicherheit, die ein Mensch aufgrund einer (zugeschriebenen) Zugehörigkeit zu einer Gruppe bekommt. Gleichzeitig bleibt diese Person aufgrund dieses Privilegs von bestimmten Belastungen und Diskriminierungen verschont. Privilegien beruhen auf historisch gewachsenen, institutionalisierten Systemen – wie beispielsweise Sexismus oder Rassismus.« https://diskrit-kubi.net/glossar/#P
Soziale Herkunft »Soziale Herkunft als Diversity-Merkmal bezeichnet das sozialkulturelle Erbe, die milieu- bzw. schichtspezifische Verortung eines Menschen durch die Betrachtung der Lebenssituation der Eltern. […]« (Gender & Diversity Portal o.J.) »[…] im Anschluss an Pierre Bordieu die Ressourcen und Wertesysteme, in die ein Mensch hineingeboren wird und in denen die Sozialisation stattfindet. […]« https://diskrit-kubi.net/glossar/#H

Was / wie tun?

Wie kann ich aktiv durch mein Tun zu gelungenen Lehr_Lernsituationen beitragen?

Informationsaustausch ist ein wesentliches Element für inklusives, geschlechter- und diversitätsreflektiertes Lehren und Studieren.

Mehr zu dieser Handlungsmöglichkeit

Räume der Reflexion bieten die Möglichkeit, sich im Sinne eines erkenntnisfördernden Rückblicks mit dem eigenen Verhalten, den Lerninhalten und der Lehr_Lernsituation auseinanderzusetzen.

Mehr zu dieser Handlungsmöglichkeit

Die Bewertung von Leistungen stellt immer eine große Herausforderung dar. Prüfungen sind informativ für Lehrende im Sinne der Verarbeitung des Lehrinhalts. Gleichermaßen ist das Ergebnis einer Prüfung Orientierung gebend für Studierende.

Mehr zu dieser Handlungsmöglichkeit

Haben Sie so eine Situation auch schon erlebt?

Sie sind nicht allein. Hier können eigene Erfahrungen, selbst erlebte Diskriminierungen oder Fragen zu Handlungsmöglichkeiten direkt an den AKG – Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen geschickt werden. Ihre Informationen werden vertraulich behandelt.

Wenn Sie "ja" anklicken, sind keine Angaben zur Person notwendig und die e-Mail geht anonym mit nicht nachvollziehbarer Mailadresse an den Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen (AKG). Dadurch ist keine weitere Kontaktaufnahme möglich.