Das Lesen der Tricky Moments kann für Personen mit Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen (Rassismus, Sexismus, Ableismus, etc.) (re-) traumatisierend wirken, da sie Inhalte zu grenzüberschreitenden Äußerungen sowie Handlungen in Lehr_Lernsituationen thematisieren. Der vorliegende Tricky Moment ist eine fiktive Situation, die sich an reale Erfahrungen anlehnt.

Haydn war alles, nur nicht schwul!

Hier geht es um:

Grenzüberschreitung
Outing
Repräsentation

Situationsbeschreibung

Künstlerischer Einzelunterricht: im Unterrichtszimmer befinden sich eine Lehrkraft, ein Studierender und ein Korrepetitor. Der Studierende hat sich in den vergangenen Wochen im Literaturstudium zusammen mit dem Korrepetitor einem Haydn Solokonzert gewidmet und sich intensiv auf den künstlerischen Einzelunterricht und das Vorspiel vorbereitet. Am Ende des 3. Satzes bittet die Lehrkraft den Studierenden, eine Passage zu wiederholen und sie fröhlicher und koketter zu spielen. Der Studierende versucht die Aufforderung der Lehrkraft umzusetzen. Diese kommentiert die Interpretation des Studierenden lachend mit den Worten: „Haydn war alles, nur nicht schwul!“

Was ist passiert?

Die Situation aus verschiedenen Perspektiven

Mit der Aussage zieht die Lehrkraft den Versuch des Studierenden, die Begriffe „fröhlicher“ und „koketter“ in seiner musikalischen Performance zu interpretieren, ins Lächerliche. Zugleich bringt er damit eine grundsätzlich homofeindliche Haltung und eine heteronormative Weltanschauung zum Ausdruck. Das Wort „schwul“ erfährt eine Stereotypisierung und Abwertung und kann sowohl mit dem Aspekt der persönlichen Zuschreibung als auch in Bezug auf die Performance gelesen/verstanden werden. Hier spielen etwa Gesten eine Rolle, die als „übertrieben feminin“ oder „von der Norm abweichend“ gedeutet werden.

Der Studierende hat sich intensiv auf den künstlerischen Einzelunterricht vorbereitet, um das erarbeitete Stück zu präsentieren und ist auf das konstruktive Feedback der Lehrperson gespannt. Nach der Aufforderung, es fröhlicher und koketter zu spielen, versucht er, eine eigenständige Ausdrucksform zu finden. Durch das Einlassen auf den Vorschlag der Lehrkraft und das Experimentieren mit weiteren Ausdrucksmöglichkeiten macht sich der Studierende angreifbar/verletzbar. Eine Proben- bzw. Unterrichtssituation setzt daher ein gewisses Vertrauensverhältnis voraus – Probe bedeutet probieren.
Die Reaktion der Lehrperson löst bei dem Studierenden Verwirrung und Verunsicherung aus. Was war an seiner Interpretation falsch? Was bedeutet das Wort „schwul“ in diesem Zusammenhang?

Version I
Die lachend geäußerte Aussage deutet der Studierende als Witz. Er fühlt sich in seinem Interpretationsversuch und dem damit verbundenen Selbstausdruck gedemütigt und weiß nicht, wie er darauf reagieren soll.

Version II
Der Studierende deutet die Aussage als persönlichen Angriff. Er fühlt sich verletzt und verunsichert und weiß nicht, wie er darauf reagieren soll.

Version III
Der Studierende nimmt die Aussage als lustig gemeinte auf, lacht mit, weiß aber nicht, wie er seine Interpretation verändern soll, um es besser zu machen.

Gerade im Bereich des zentralen künstlerischen Fachs nimmt die Lehrperson eine Schlüsselposition für die künstlerische Entwicklung der Studierenden und das gesamte Studium ein. Das Urteil der Lehrperson hat zumeist weitreichende Auswirkungen auf den gesamten Studienverlauf und auf die berufliche Karriere der Studierenden.

Die Aussage zeigt die Schwierigkeit der Lehrkraft, ein verständliches und adäquates Feedback auf die musikalische Qualität (Tempo, Phrasierung, Technik, etc.) oder den körperlichen Ausdruck des Studierenden zu geben.

Die Aufgabe von Korrepetitor_innen ist es, zusammen mit den Studierenden die Stücke einzustudieren und sie beim Vorspiel zu begleiten. Für das zentrale künstlerische Fach nehmen sie eine wichtige Rolle ein. Korrepetitor_innen werden meist von den Lehrkräften ausgewählt. Häufig entwickelt sich eine langjährige Zusammenarbeit zwischen Lehrperson und Korrepetitor_in. Trotz ihrer fachlichen und künstlerischen Kompetenzen, nimmt die Klassenkorrepetition in der universitären Hierarchie eine unter der Lehrperson liegende Position ein. Für den Studierenden „Partei zu ergreifen“ oder das Wort zu erheben, könnte für den Korrepetitor weitreichende berufliche Konsequenzen nach sich ziehen.

Das Nicht-Reagieren des Korrepetitors in einer solchen Situation kann unterschiedlich wahrgenommen werden:

Version I
Der Studierende fühlt sich durch den Korrepetitor insgeheim gestärkt, weil er die Aussage nicht als witzig auffasst.

Version II
Der Professor fühlt sich durch den Korrepetitor bestärkt, weil er sich nicht offen mit dem Studierenden solidarisiert.

Lehr-Lernsetting

Künstlerischer Einzelunterricht

„Das zentrale künstlerische Fach bildet den Mittelpunkt des Studiums, (…) [in dem] eine gleichmäßige Entwicklung von technischen Fähigkeiten, musikalischem Verständnis und eigenständiger Interpretation angestrebt wird.“ (mdwOnline)

Das One-to-One-Setting ist ein besonderes Unterrichtsformat mit einem großen Potential für den Fokus auf die individuelle künstlerische Leistung/Entwicklung der Studierenden. Gleichzeitig befinden sich Lehrperson und Studierende_r in machtungleichen Positionierungen. Daher bietet dieses Setting auch Raum für unbeobachtete grenzüberschreitende Handlungen: das Setting des Einzelunterrichts kann für Studierende zu einem sehr unsicheren und unfreien Ort werden.

Übungen, in denen z.B.: Tiere imitiert, am Boden gekrochen, oder mit emotionalem Ausdruck experimentiert… werden soll(en), sind nicht per se abwertend. In einer respektvollen Beziehung zwischen Lehrperson und Studierender_m können z.B.: Imitationsübungen durchaus mit entsprechender Vorbereitung und Vermittlung von Ziel und Zweck eingesetzt werden. Es hängt von vielen Variablen ab, wie eine Unterrichts-Situation im Einzel-Setting abläuft und welche Handlungsspielräume offen stehen.

Wichtig ist und bleibt dabei eine respektvolle und transparente Kommunikation und die Möglichkeit Stopp sagen zu können.

Welche Begriffe, Konzepte und Vorstellungen spielen hier eine Rolle?

Folgende Begriffsbeschreibungen kommen aus dem Glossar zu "Lehr- und Lernmaterial für eine diskriminierungskritische Praxis an der Schnittstelle Bildung / Kunst" von Carmen Mörsch.

Heteronormativität »Heteronormativität beschreibt eine Weltanschauung und ein gesellschaftliches Wertesystem, das nur zwei Geschlechter (männlich und weiblich) und heterosexuelle Beziehungen (ein Mann und eine Frau) zwischen diesen Geschlechtern anerkennt und als normal ansieht. In einer heteronormativen Gesellschaft werden an alle Menschen soziale Erwartungen gerichtet, wie sie als Männer und Frauen miteinander leben sollen. Menschen werden entweder als Mann oder Frau geboren (und dementsprechend erzogen) und gehen nur mit dem jeweils anderen Geschlecht sexuelle Beziehungen ein. Menschen, die nicht in diese zweigeschlechtliche Ordnung passen, weil sie sich beispielsweise als non-binary, trans* oder inter* identifizieren oder keine heterosexuellen Beziehungen haben, werden als ›anders‹ und ›nicht normal‹ wahrgenommen und beschrieben (Othering).« Siehe Quelle auf diesem Link.
Homofeindlichkeit »Homo- und Bifeindlichkeit meint die Ablehnung, Aggressionen oder Feindseligkeit gegen homo- und bisexuelle Menschen oder Menschen, die als solches wahrgenommen werden. Oft ist auch von Homophobie die Rede. Phobien sind allerdings eigentlich Ängste im Sinne einer psychischen Beeinträchtigung. Diskriminierung hat damit jedoch nichts zu tun.« Mehr Information auf diesem Link.

Was / wie tun?

Wie kann ich aktiv durch mein Tun zu gelungenen Lehr_Lernsituationen beitragen?

Die Beziehung zwischen Lehrenden und Studierenden ist die Basis pädagogischer Interaktion.

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Feedback zu geben und zu bekommen beinhaltet Rechte und Pflichten aller Beteiligten und bedarf einer gemeinsam vereinbarten, verbindlichen Struktur.

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Wenn ich alles richtig mache, lerne ich nichts. Fehler sind die Quelle für Veränderung und notwendig, um zu reflektieren und sich weiter zu entwickeln.

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Räume der Reflexion bieten die Möglichkeit, sich im Sinne eines erkenntnisfördernden Rückblicks mit dem eigenen Verhalten, den Lerninhalten und der Lehr_Lernsituation auseinanderzusetzen.

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Zu erkennen, wie sich die persönlichen Werte, Normen oder Erwartungen auf das alltägliche Tun und Handeln (im Unterricht) auswirken und selbstkritisch über Dynamiken der Eigen- und Fremdwahrnehmung zu reflektieren, ist wesentlich für die Gestaltung inklusiver, gender- und diversitätsreflektierter Räume.

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Wie können wir uns mit den Menschen, mit denen wir studieren und zusammenarbeiten solidarisieren und verbünden?

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Haben Sie so eine Situation auch schon erlebt?

Sie sind nicht allein. Hier können eigene Erfahrungen, selbst erlebte Diskriminierungen oder Fragen zu Handlungsmöglichkeiten direkt an den AKG – Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen geschickt werden. Ihre Informationen werden vertraulich behandelt.

Wenn Sie "ja" anklicken, sind keine Angaben zur Person notwendig und die e-Mail geht anonym mit nicht nachvollziehbarer Mailadresse an den Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen (AKG). Dadurch ist keine weitere Kontaktaufnahme möglich.