Beschäftigen wir uns mit den Genderimplikationen der Geschichte einer Kunstakademie, einer Kunsthochschule bzw. Kunstuniversität geht es dementsprechend nicht nur darum, den Blick auf Geschlechterverhältnisse zu lenken sondern auch auf die Verschränkung von Geschlechter mit den Wissensordnungen, die ja sowohl in den Strukturen als auch in den Inhalten zutage treten. Eine dieser Verschränkungen wird um den Begriff des Genies deutlich, denn das Künstler-Genie wurde immer männlich gedacht. Der Künstler repräsentierte in der Moderne den schöpferischen Menschen schlechthin, der im Gegensatz zu der durch ihre Gebärfähigkeit in spezifischer Art und Weise und damit völlig anders, nämlich auf den Reproduktionsbereich konnotierte Schöpferinnenkraft von weiblichen Menschen, Frauen, stand. Dementsprechend entstand das Bild vom Genie, das auch heute noch seine Wirkmächtigkeit nicht verloren hat: Männer als die Autoren/Komponisten/Produzenten, Frauen als die Reproduzentinnen/Darstellerinnen konstituierten Felder einer produzierenden und einer reproduzierenden Kunst. Diese Zuschreibungen finden ab dem bürgerlichen Zeitalter in der Dichotomie von Genie und Diva ihre geschlechterspezifischen Verkörperungen.
Die Diva war als weibliches Pendant zum männlich gedachten Künstler-Genie ein der bürgerlichen Geschlechterideologie adäquates Angebot an Künstlerinnen, einen (dem Konzept des weiblichen Geschlechtscharakters entsprechenden) Platz in der Kunst – wenn auch nicht in der schaffenden, sondern der reproduzierenden, interpretierenden Kunst – zugestanden zu bekommen.
Der Begriff Diva kommt aus dem Italienischen und leitet sich von divine (göttlich) ab, Diva heißt die Göttliche. Doch wie ist göttlich hier zu verstehen? Nicht als Ausdruck des Schöpferischen, wie bei Prometheus, dem Prototyp des (männlichen) Genies, sondern als Ausdruck der Schöpfung, als perfektes Machwerk der Schöpfung. Die uns bekannten Gegensatzpaare Kultur-Natur, aktiv-passiv, Tun-Sein sind diesen Vorstellungen adäquat eingeschrieben.
Uneinig ist sich die Forschungsliteratur darüber, wer die erste Diva, der erste Star gewesen sei. Musikwissenschafter_innen sehen die ersten Diven in den Primadonnen des frühen 19. Jahrhunderts. Bis ins 18. Jahrhundert waren in der Oper die weiblichen Rollen von Kastraten (Ortkemper 1993) gesungen worden, doch durch deren Ablöse gilt das 19. Jahrhundert in der Folge als Hoch-Zeit des weiblichen Soprans.
Als erste Diven gehandelt werden die Primadonnen Angelica Catalani (1780-1849), Henriette Sontag (1806-1854), Maria Malibran (1808-1836), die in den USA sehr erfolgreiche Jenny Lind (1820-1887) und Adelina Patti (1843-1919). Kunst- und Theaterwissenschafter_innen sehen wiederum die ersten Diven in den Schauspielerinnen Sarah Bernhardt (1844-1923) und Elenora Duse (1858-1924).
Für Filmwissenschafter_innen ist eine Diva
– entsprechend ihrer Fachdisziplin – eine Figur, die erst durch die audiovisuelle technologische Entwicklung (Erfindung des Films, Radios, Tonfilms), die Reproduzierbarkeit von Bild (und später) Ton, möglich wurde. Als Film-Diven gelten Greta Garbo (1905-1990), Marlene Dietrich (1901-1992), Marilyn Monroe (1926-1962) und Maria Callas (1923-1977).
„Um sich ein Starimage zu geben, muss die Diva eine Kunstfigur verkörpern, wobei sich diese … von mythopoetischen Figuren und einer Ikonografie von Posen| Gebärden und Gesten nährt.”(Bronfen/Straumann 2001, 75)
Nicht immer war der Künstler als Genie gedacht worden, im Mittelalter war der bildende Künstler noch ein Meister seiner Zunft (Frauen hatten – wenn überhaupt – nur als Witwen von Meistern Zugang, waren ansonsten von den Zünften ausgeschlossen). Der Renaissance-Künstler Pietro Aretino gilt als einer der ersten, der meinte, dass der wahre Künstler über einen eingeborenen „genius“ verfügen müsse (Zilsel 1926, 237 ff.). Genie heißt der Erzeuger, leitet sich ab aus dem Griechischen γίγνομαι „werden, entstehen“. Erst durch die – parallel zu dem sich entwickelnden Kapitalismus – sukzessiv größere Freiheit von einem Auftraggeber und die Autonomie des Künstlers – verfestigte sich die Zuschreibung „genial“ an den Künstler und wurde (ab spätestens 1850) zu einer näheren Beschreibung des freischaffenden Künstlers. Das Künstler-Genie wurde zu einem Role Model für den freien, ungebundenen, sich selbst erschaffenden, kreativen Menschen in der Zeit der industriellen Revolution, in der die Mehrzahl der Menschen der Ersten Welt in ein Korsett von knapper Zeit und Kapitaleffizienz gepresst, entfremdete, erwerbstätige Menschen wurden. Das Künstler-Genie war in einem solchen Kontext ein Gegen-Modell für einen von solcher Müh und Plage befreiten, „freien und selbst bestimmten“ Menschen. Indem Kunstschaffende in der bürgerlichen Gesellschaft für das Selbstbild der Moderne standen, ermöglichte es diese Funktion, es dort verankert für den Großteil der Gesellschaft auszulagern. (vgl. Creisher 1995) Galt dies alles auch für weibliche Menschen? Die Zeit der Moderne war als Teil des bürgerlichen Zeitalters durch und durch geprägt von dem bipolaren bürgerlichen geschlechterpolitischen Konzept wie es Karin Hausen in „Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere’“ beschrieben hat.
„Den als Kontrastprogramm konzipierten psychischen ‚Geschlechtseigenthümlichkeiten’ zu Folge ist der Mann für den öffentlichen, die Frau für den häuslichen Bereich von der Natur prädestiniert … Als immer wiederkehrende zentrale Merkmale werden beim Manne die Aktivität und Rationalität, bei der Frau die Passivität und Emotionalität hervorgehoben, wobei sich das Begriffspaar Aktivität-Passivität vom Geschlechtsakt, Rationalität und Emotionalität vom sozialen Betätigungsfeld herleitet.“ (Hausen 1976, 397)
Diese ideologischen geschlechterpolitischen Grundannahmen, wie sie seit Ende des 18. Jahrhunderts für das bürgerliche Zeitalter zunehmend realitätswirksamer wurden, waren genauso auch in den Künsten gelebt worden. „In der beginnenden Moderne wurde die geschlechtliche Strukturierung des Künstlerkonzepts nicht gemildert oder liberalisiert, sondern sogar zusätzlich verstärkt.“ (Krieger 2007, 139)
Wie schwer, fast unmöglich es in einem solchen Umfeld für Künstlerinnen war, einen dem Künstler-Genie vergleichbaren Künstler-Status zu erlangen, zeigt sich schon daran, dass Frauen beispielsweise erst nach dem Ersten Weltkrieg überhaupt zu einem Kunststudium, wie z.B. an der 1688 [sic] gegründeten Akademie der bildenden Künste in Wien, zugelassen wurden. „Künstlerinnen waren gezwungen, eine eigene Identität, eine Konzeption weiblichen Künstlertums erst zu entwickeln; sie mussten gewissermaßen sich selbst erfinden. Vor allem brauchten sie Strategien zur Bewältigung der tiefen Kluft zwischen dem angestrebten Subjektstatus als Künstlerin und den ihnen auf den Leib geschriebenen Objektstatus als Frau.“ (Krieger 2007, 139)
An der Singschule, später am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde Wien, der Vorläuferinstitution der heutigen mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, waren Mädchen/Frauen zwar bereits seit ihrer Gründung im Jahr 1817 zum Musikstudium zugelassen, aber lange auf wenige – so genannte typische Frauen-Fächer und -Instrumente wie Gesang, Klavier, Flöte beschränkt.
Wagen Sie ein kleines Selbstexperiment: Lesen Sie die folgenden Zuschreibungen und denken Sie sie zunächst in Verbindung mit einem Mann – Sie werden das Genie in seiner wilden unbändigen kreativen Kraft sicher wiedererkennen.
exzentrisch – launisch – eigensinnig – willensstark – konkurrenzbetont – ego-zentriert – durchsetzungsfähig – verschwenderisch – eine große Gabe besitzen – harte Arbeit an sich selbst…
Nun lesen Sie obige Eigenschaften noch einmal, diesmal aber sehen Sie eine Frau vor sich. – Und schon spüren Sie das Unbehagen. Da passt etwas nicht? Ihre Sympathie schwindet? Aber wenn ihre Stimme Sie betört? Und ihr Anblick?
Ja dann…
Langsam haben diese klassischen Zuschreibungen weiblich-männlich jedoch ihre Eindeutigkeit verloren. Transformationen dieser Bilder sind festzustellen.
„The diva´s voice [auch im übertragenen Sinne] is a political force. It asserts equality and earns authority in the public, masculine world. The diva´s voice moves and transforms women (and a few men), gives them (or helps them to 'discover' in themselves) new vision, strength, desire.” (Leonardi/Pope 1996, 19)
In der Diva begannen normierende Gender Oppositionen – da Mann, dort Frau, da Kreativität, dort Reproduktion, da Geist, dort Körper – zu erodieren, und nicht nur das: „she breaks down another disziplinary and normative opposition – the hetero/homo opposition” (Ebd., 21) Ein Empowerment von der Fremddefinition zum Spiel mit Selbstdefinitionen wird sichtbar.
Obgleich die Diva lange Zeit ausschließlich weiblich konnotiert war, zählen Kunsthistorikerinnen wie Elisabeth Bronfen und Barbara Straumann auch Künstler wie Andy Wahrhol, Joseph Beuys und Elvis Presley dazu. Die Diva öffnet sich – indem ein androgyn bisexuelles Künstler_innenbild bespielt wird –, hin zu einer beide Geschlechter umfassenden Interpretation von Künstler_in-Sein – und darüber hinaus.
Auch der Geniebegriff ist in Auflösung begriffen. In Übereinstimmung mit der Veränderung des Kunstbegriffs vom durch einen Einzelnen geschaffenen Werk hin zum künstlerischen Prozess, in dem Vernetzung und Beziehung in den Fokus rücken, befinden sich viele Kunstschaffenden im Prozess einer Neu-Positionierung. Die Vorstellungen vom Einzelgenie werden peu à peu vom Leben im Dialogischen, von Netzwerken, von Teams abgelöst. So wie unsere Wissens- und Geschlechterordnungen in Veränderung sind, so sind es mit ihnen auch diejenigen, die an ihrer Gestaltung beteiligt sind, diejenigen, die sie leben und insofern jede und jeder von uns.
Elisabeth Bronfen, Barbara Straumann 2001, Die Diva. Eine Geschichte der Bewunderung, München
Alice Creischer 1995, Das Genie als Bedürfnis der bürgerlichen Gesellschaft, in: Stephan Dillemuth (Hg.), Akademie, Köln, 82-102
Karin Hausen 1976, Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹ – Eine Spiegelung von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart, 363-393
Verena Krieger 2007, Was ist ein Künstler. Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln
Susan K. Leonardi, Rebecca A. Pope 1996, The Diva´s Mouth. Body Voice, Prima Donna Politics, New Brunswick und New Jersey
Hubert Ortkemper 1993, Engel wider Willen. Die Welt der Kastraten, Berlin
Edgar Zilsel 1926 Die Entstehung des Geniebegriffs, Tübingen
Bildnachweis
Abb. 1: Illustration aus dem Buch Ma double vie. Mémoires de Sarah Bernhardt, 1907. Sarah Bernhardt [Public domain], via Wikimedia Commons. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AMa_double_vie_sarah_bernhardt_front.jpg
Abb. 2: Eleonora Duse by Ilya Repin 1891 [Public domain], via Wikimedia Commons, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3ADuse_by_Repin.jpg
Abb. 3: Goethe in the Roman Campagna 1787 gemalt von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein [Public domain], via Wikimedia Commons, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AJohann_Heinrich_Wilhelm_Tischbein_-_Goethe_in_der_roemischen_Campagna.jpg
Abb. 4: Geniuskopf, Foto: Gryffindor 2008 (Eigenes Werk) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0), via Wikimedia Commons, Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AVindobona_Hoher_Markt-92.JPG
Abb. 5: Akademie der bildenden Künste um 1875, HMW 78079/196, Foto: M. Frankenstein & Comp. Bildrechte: Wien Museum
Abb. 6: David Bowie 1974, shooting his video for Rebel Rebel By AVRO (Beeld En Geluid Wiki - Gallerie: Toppop 1974) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons, https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3ADavid_Bowie_-_TopPop_1974_10.png
Abb. 7: Die Damen beleben die Sinne. Vorarbeiten im Kurbad Wien-Oberlaa 1990, Landessammlung NÖ, (Die Damen: Ona B., Evelyne Egerer, Birgit Jürgenssen, Ingeborg Strobl, Lawrence Weiner) Quelle: http://www.zeitkunstnoe.at/de/st.-poelten/ausstellungen/die-damen.-ona-b.-evelyne-egerer-birgit-juergenssen-ingeborg-strobl-lawrence-weiner
Andrea Ellmeier und Doris Ingrisch, Artikel „genie und diva“, in: spiel|mach|t|raum. frauen* an der mdw 1817-2017plus, hg. von Andrea Ellmeier, Birgit Huebener und Doris Ingrisch, mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, 2017ff.
URL: https://www.mdw.ac.at/spielmachtraum/artikel/genie-und-diva
| zuletzt bearbeitet: 10.01.19