„Dichotomie, die, ..ien: … 2.a) Zweiteilung, Gliederung (z.B. eines Gattungsbegriffs in zwei Arten); b) Gliederung eines Oberbegriffs in einen darin enthaltenen Begriff und dessen Gegenteil“ (Duden, Mannheim 102010, 248). Gemäß der sich im 19. Jahrhundert durchsetzenden bürgerlichen Geschlechterideologie (Hausen 1976) gliedert sich der Oberbegriff Mensch in die darin enthaltenen Unterbegriffe Mann und Frau. Damit ist es ein komplementäres, einander ausschließendes Begriffspaar, das nur ein „entweder | oder“ aber so gut wie kein „sowohl | als auch“ bzw. ein „und“ zulassen. Bipolare Denkstrukturen liegen bis heute dem westlichen Wertesystem zugrunde. Das Hinterfragen und Auflösen von daraus resultierenden Stereotypen und deren gesellschaftlichen Auswirkungen in Vorurteilen, Festschreibungen und Machtverhältnissen ist Ziel der Gender Studies bzw. Queer Studies.
Die Meinungen dazu werden aus einem großen Vorrat an (Vor-)Urteilen und Assoziationen gebildet. Häufig bilden sie ganze Gruppen von Gegensatzpaaren. Die traditionelle Psychiatrie unterschied bis in die jüngste Vergangenheit „typische” Eigenschaften von Frauen und Männern (und definierte „männliche“ Verhaltensweisen als normal, „weibliche“ als tendenziell krankhaft):
weiblich | männlich |
---|---|
abhängig, symbiotisch | autonom |
unreif | erwachsen |
instabil | zielorientiert |
emotional, unbewußt | rational |
sinnlich | beherrscht |
schwach, anpassungsfähig, flexibel |
stark |
passiv | aktiv |
Interesse an Kleinigkeiten (Häuslichkeit, Mode) |
große Lebensentwürfe |
fürsorglich, pflegend | konkurrierend |
zuständig für Freundschaften | zuständig für Materielles |
Die Psycholinguistik beschrieb geschlechtsspezifisches Kommunikationsverhalten als
typisch weiblich | typisch männlich |
---|---|
sucht Nähe | sucht Freiheit |
braucht Freundschaften | lebt einsam |
redet über Gefühle | redet über Sachen |
läßt Schwäche zu | strebt nach Stärke |
ist gruppenorientiert | ist konkurrierend, heirarchisch |
In Gruppen von Gegensatzpaaren beschrieb z.B. Friedrich Schiller im späten 18. Jahrhundert auch Kunst und Musik und ihr Publikum. Er unterschied:
den Kunstgenuss als Vergnügen | von der Kunstproduktion als Arbeit |
das Schöne | vom Erhabenen |
das Virtuose | vom Tiefen |
das Weibliche | vom Männlichen |
den Adel | vom Bürgertum |
und stellte fest, die Kunst werde zum Vergnügen des Adels und der Frauen von bürgerlichen Männern erarbeitet.
19. und 20. Jahrhundert betrachtete man auch das österreichische bzw. deutsche Wesen als gegensätzlich, und in den Charakterbeschreibungen tauchen viele der mit „männlich“ und „weiblich“ assoziierten Eigenschaften wieder auf:
österreichisch | deutsch |
---|---|
katholisch | protestantisch |
südlich | nördlich |
warm | kühl |
heiter | streng |
genießend | arbeitend |
sinnlich | vernünftig |
verschwenderisch | sparsam |
intuitiv | intellektuell |
fatalistisch | strebend |
natürlich | „Kulturstaat” |
schlampig | effizient |
jünglingshaft, kindlich | männlich |
friedlich | militaristisch, heroisch |
Seele | Geist |
pflegt Musik | pflegt Philosophie |
typische Musik: Walzer | typische Musik: Fuge |
Die berühmte Österreich-Idylle aus Grillparzers König Ottokars Glück und Ende von 1825 (III/3) unterscheidet das intellektuelle, Bücher lesende, männliche Deutschland vom frommen, aber diskussionsunlustigen Österreich:
S’ist möglich, daß in Sachsen und beim Rhein
Es Leute gibt, die mehr in Büchern lasen;
Allein, was not tut und was Gott gefällt,
Der klare Blick, der offne, richt’ge Sinn,
Da tritt der Österreicher hin vor jeden,
Denkt sich sein Teil und läßt die andern reden!
O gutes Land! o Vaterland! Inmitten
Dem Kind Italien und dem Manne Deutschland
Liegst Du, der wangenrote Jüngling, da;
Erhalte Gott dir deinen Jugendsinn
Und mache gut, was andere verdarben!
Das Widmungsgedicht (Josef Weilen) zur Feier der Enthüllung des Schubert-Denkmals im Stadtpark 1872 bringt den Standort Schaffensprozess des Naturtalents Schubert, durch dessen Feder die Musik ohne sein Zutun fließt, unmittelbar miteinander in Verbindung:
Sei uns gegrüßt, den endlich wir errungen! - | Und sahst Beethoven Du, den grollenden Titan, |
zitiert nach dem Bericht über die Einweihung des Denkmals, NZfM 68. Jg., Nr. 25, 14. Juni 1872, S. 254 f.
Im Gegensatz zu Schuberts scheinbar mühelosem Komponieren symbolisiert der gefesselte Titan Beethovens schwere und qualvolle Arbeit.
Deutsche Musik galt als tiefer und bedeutender als die österreichische.
Der Musikgelehrte Adolf Bernhard Marx plante 1832 das preußische Musikwesen, „jedoch mit der tieferen Begründung und sonstigen Verbesserungen, die die bessere deutsche Musik und der wissenschaftliche Geist Norddeutschlands vor dem Ausland und dem Süden [= Österreich] voraushaben." (Plan zu einer vollständigen Organisation des Musikwesens im preußischen Staate, 1832, zitiert n. Sowa 1973)
Noch 1866 tadelte die Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung, in Wien sei „nicht einmal das Studium der Harmonielehre obligat!” (AmZ, 40, 22. August 1866, 275f). Und Nietzsche stellte in seinen Aphorismen die Musik in direkten Gegensatz zum intellektuellen Diskurs: „Die Musik erlangt ihre grosse Macht nur unter Menschen, welche nicht discutiren können oder dürfen.” (Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches II.2. Der Wanderer und sein Schatten (167), zitiert n.Colli und Montinari 1967-1977) Dagegen verführt die österreichische Musik mit „unmännlichen“ Eigenschaften (wie süss, leicht) sogar einen typisch „deutschen“ Komponisten wie Brahms:
„B r a h m s und W a l z e r; die beiden Worte sehen einander auf dem zierlichen Titelblatte förmlich erstaunt an. Der ernste, schweigsame B r a h m s, der ächte Jünger S c h u m a n n’s, norddeutsch, protestantisch und unweltlich wie dieser, schreibt Walzer?Ein Wort löst uns das Räthsel, es heisst: Wien. Die Kaiserstadt hat B e e t h o v e n zwar nicht zum Tanzen, aber zum Tänzeschreiben gebracht, S c h u m a n n zu einem ‘Faschingsschwank’ verleitet, sie hätte vielleicht B a c h selber in eine ländlerische Todsünde verstrickt. Auch die Walzer von B r a h m s sind eine Frucht seines Wiener Aufenthalts, und wahrlich von süssester Art. Nicht umsonst hat dieser feine Organismus sich Jahr und Tag der leichten, wohligen Luft Oesterreichs ausgesetzt - seine ‘Walzer’ wissen nachträglich davon zu erzählen.” (AmZ 43, 24. Oktober 1866, 346 f.)
Richard Wagner 1870 über Beethoven und Österreich: „In der Haydnschen Instrumentalmusik glauben wir den gefesselten Dämon der Musik mit der Kindlichkeit eines geborenen Greises vor uns spielen zu sehen.” Daher konnte Beethoven Haydn nicht als Lehrer anerkennen: „Es scheint, er fühlte sich Haydn verwandt wie der geborene Mann dem kindlichen Greise.”
Beethovens Natur „wehrte” der „frivolen Lebens- und Geistestendenz” in Österreich:
„Katholisch getauft und erzogen, lebte […] der ganze Geist des deutschen Protestantismus’ in ihm. Und dieser leitete ihn auch als Künstler wiederum auf dem Wege, auf welchem er auf den einzigen Genossen seiner Kunst treffen sollte, dem er ehrfurchtsvoll sich neigen, den er als Offenbarung des tiefsten Geheimnisses seiner eigenen Natur in sich aufnehmen konnte. Galt Haydn als der Lehrer des Jünglings, so ward der große S e b a s t i a n B a c h für das mächtig sich entfaltende Kunstleben des Mannes sein Führer.”
(alle Zitate aus: Richard Wagner 1873, 79-151)
Und die populäre Musikgeschichte von Max Morold 1916:
„Beethoven ist in Österreich und in gewissem Maße auch durch Österreich Beethoven geworden; seine Persönlichkeit aber und die Größe seiner Kunst ragen weit über ein noch so umfänglich gedachtes, noch so vielseitig betrachtetes Österreichertum hinaus. Zumal das Weiche, Schmiegsame, Liebenswürdige, das wir sonst als österreichisch empfinden und das bei Haydn und Mozart einen unvergänglichen künstlerischen Ausdruck gefunden hat, ist für sein Wesen gar nicht kennzeichnend. Dieses spricht vielmehr in jedem kleinsten Zuge und mit jeder leisesten Zuckung eine gewaltige, beinahe norddeutsch zu nennende und ganz alldeutsch zu wertende Männlichkeit und Mannhaftigkeit aus, eine sittliche Größe, einen kühnen, unbedingten Idealismus, eine gedankliche Hoheit ohnegleichen. Nicht naiv und nicht mühelos bloß aus der Fülle der angeborenen Begabung erreichte er die höchsten künstlerischen Ziele. In heiliger Ergriffenheit, mit einem priesterlichen Verantwortungsgefühle steckte er sich selbst diese Ziele, und in harter, zäher Arbeit formte er an dem plastischen Ausdruck dessen, was sein Herz bewegte und seinen Geist erfüllte.” (Max Morold 1916, 453)
Ein Beispiel für die sexualisierte Sprache, in der über Beethoven bisweilen gesprochen wird: Laut dem Analyse-Buch von Moore/Heger beginnt die Reprise in Beethovens 7. Sinfonie „with a terrific upward thrust“.
„Schuberts Kompositionen nützen sich ab. Es ist eine gewisse Koketterie, eine unmännliche Weichlichkeit in ihnen.” (Lenau 1839, zitiert n. Deutsch 1957, 212)
Schubert ist „gegen Jenen [Beethoven] ein Kind, das sorglos unter Riesen spielt”. „Bei ihm [Schubert] ist nichts reflectirt. Sich selber fast unbewußt quillt es in unaufhaltsamem Strom von Innen heraus, was uns in ungleich höherem Maße vom Gemüth als vom Verstande geboren scheint.” (La Mara (Marie Lipsius) 1868, 71)
Es ist der für Österreich typische „leichtbeflügelte Genius”, der in Franz Schubert „gipfelt” (NZfM, 64. Jg., N2. 2, 3. Januar 1868, 9)
Beethoven unterwirft uns seinem Willen mit „starkem, erbarmungslosem Zwang”; statt „Verlegenheit oder Furcht” erweckt Schuberts Musik „Mitgefühl, Zuneigung und Liebe” (Grove 1883, 364)
Diese und andere Aussagen über Schubert und Beethoven ergeben folgende Gruppe von Gegensatzpaaren:
Schubert | Beethoven |
---|---|
empfindsam | mächtig |
in engen Freundschaftsbeziehungen | ungebändigte Persönlichkeit, einsam |
naiv, weiblich | männlich |
geschwätziger, breiter, weicher | knapper, härter, lakonisch |
bittend | befehlend |
mehr Gemüth als Verstand | rational |
kein Durchhaltevermögen | ständig ringend |
beherrscht nur kleine Formen | verwirklicht große Entwürfe |
Kompositionsvorgang passiv, wie ein Medium, unbewusst |
arbeitend, kämpfend |
erweckt Liebe | erweckt Furcht |
Sogar in Formanalysen werden Beethoven und Schubert mit Wörtern beschrieben, die als „männlich“ oder „weiblich“ konnotiert sind. McClary 1994 über die Sonatenform:
bei Schubert | bei Beethoven |
---|---|
sinnlich | eroisch |
felxible Identität | stark, zielorientiert |
andere Tonarten gleichberechtigt mit Haupttonart |
Tonarten hierarchisch, Haupttonart besiegt Seitensatztonart |
Identifikation mit passivem Seitenthema | Identifikation mit aktivem, siegreichen Hauptthema |
Handlung stellt ein Opfer in den Mittelpunkt | Handlung stellt Sieger in Mittelpunkt |
Terzbeziehungen | Quintbeziehungen |
(Akzeptanz von Sexualität?) | (Furcht vor Sexualität?) |
Gewalttätigkeit | |
Themenkontraste können verschwinden, Verschmelzung von Themen | Themen kontrastieren, arbeiten |
Entwicklung passiv, „geschieht” | Entwicklung ist planvoll, rational |
daher sei der Komponist | |
homosexuell? | Musterbeispiel deutscher Männlichkeit |
Scott Burnham fasst zusammen:
„Take the case of Schubert. From Theodor Adorno to Carl Dahlhaus and Susan McClary, Schubert’s music is consistently characterized as non-Beethovenian rather than as Schubertian. We can hardly begin to talk about Schubert in any other terms: Schubert is non-processual rather than processual; reminiscent rather than goal-oriented; the sense of self projected by his music is permeable rather than autonomous, or feminine rather than masculine, or ‘gay’ rather than ‘straight’” (Burnham 1995)
AmZ [Allgemeine musikalische Zeitung], Leipzig, 40, 22. August 1866, 275f.
AmZ
[Allgemeine musikalische Zeitung] Leipzig, 43, 24. Oktober 1866, 346 f
Scott Burnham 1995, Beethoven Hero, Princeton
Phyllis Chesler 1974, Frauen, das verrückte Geschlecht?, Reinbek bei Hamburg 1974 [engl. Women and Madness, 1972]
Otto Erich Deutsch (Hg.) 1957, Schubert. Die Erinnerungen seiner Freunde, Leipzig
George Grove 1883, Franz Schubert, in: Dictionary of Music and Musicians, London
La Mara (Marie Lipsius) 1868, Musikalische Studienköpfe, Leipzig
NZfM [Neue
Zeitschrift für Musik], Leipzig, 64. Jg., N2. 2, 3. Januar 1868
Susan Mc Clary 1994, Constructions of Subjectivity in Schubert’s Music, in: Philipp Brett/ Elizabeth Wood/ Gary C. Thomas (Hg.), Queering the Pitch. The new gay and lesbian musicology, New York und London
Max Morold 1916, Die deutsche Tonkunst in Österreich, in: Adam Müller-Guttenbrunn (Hg.), Ruhmeshalle deutscher Arbeit in der österreichisch-ungarischen Monarchie, Stuttgart/Berlin
Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II.2. Der Wanderer und sein Schatten (167), zit. n.: Giogio Colli und Mazzino Montinari (Hg.) 1967-1977, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Berlin/ New York 1967-1977, Band 2
Georg Sowa 1973, Anfänge institutioneller Musikerziehung in Deutschland (1800-1843), Regensburg, [= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jh.s, Band 33]
Senta Trömel-Plötz 1984, Gewalt durch Sprache, Frankfurt a. M.
Richard Wagner 1873, Beethoven, in: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Band 9, Leipzig
Bildnachweis
Abb. 1: Ausschnitt aus Abb.4
Abb. 2: Ludwig van Beethoven; auf dem Sockel gefesselter Titan (Prometheus), Genien und die Siegesgöttin Nike, Beethovendenkmal am Beethovenplatz, 1010 Wien, Bildhauer: Caspar von Zumbusch (1880), Foto: Marie-Agnes Dittrich 2011
Abb. 3: Franz Schubert im Moment der Inspiration, Schubertdenkmal Stadtpark 1010 Wien; Bildhauer: Carl Kundmann, Einweihung 1872, Foto: Marie-Agnes Dittrich 2011
Abb. 4: Postkarte: Beethoven. Der einsame Meister. Otto Nowak pinx, B.K.W.1 Nr. 1140, Quelle: Archiv_GGD
Abb. 5: Ein Schubert-Abend bei Ritter von Spaun (Moritz von Schwind 1868) Quelle:https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Moritz_von_Schwind_Schubertiade.jpg
Marie-Agnes Dittrich, Artikel „was und wer ist männlich? oder weiblich?“, in: spiel|mach|t|raum. frauen* an der mdw 1817-2017plus, hg. von Andrea Ellmeier, Birgit Huebener und Doris Ingrisch, mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, 2017ff.
URL: https://www.mdw.ac.at/spielmachtraum/artikel/was-und-wer-ist-maennlich-oder-weiblich
| zuletzt bearbeitet: 10.01.19