„Des Mannes Haus ist die Welt, die Welt der Frau ist das Haus.“ (Das Haus. Illustrierte Frauen-Zeitung, 1/1 (1869), 1)
In der zweiten Jahrhunderthälfte hatte sich zumindest für die bürgerliche Lebenswelt das Idealbild der im Haus wirkenden Frau etabliert. Nach einem langen Prozess der sozialen Wandlung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wurde die Gesellschaft immer weniger nach ihrer ständischen Funktion, sondern immer mehr nach ihrem Geschlecht und den jeweiligen zugeteilten Räumen definiert. Privates Musizieren galt für „Töchter aus gutem Haus“ als adäquate Betätigung im häuslichen Bereich, sofern diese Beschäftigung dem obersten Postulat weiblichen bürgerlichen Verhaltens der Nützlichkeit entsprach. Tätigkeiten im Haushalt sollten vorrangig sein. Als nützlich galt aber auch die musikalische Betätigung: Sie sollte vor Langeweile schützen, Geist und Gemüt bilden sowie die Mädchen und jungen Frauen zu interessanten Gesellschafterinnen machen. Musizieren – insbesondere gegen Bezahlung – im öffentlichen Raum war hingegen äußerst umstritten. Dennoch gab es die Möglichkeit einer professionellen musikalischen Ausbildung. Während österreichische Mädchen und Frauen bis ins 20. Jahrhundert von einer allgemeinen höheren Bildung fast vollständig ausgeschlossen waren, konnten sie einige Fächer des Konservatoriums der Gesellschaft der Musikfreunde seit der Gründung im Jahr 1817 belegen.
Seit 1774 war der Besuch einer Volksschule für alle Kinder verpflichtend, aber die Weiterbildung war für Mädchen an sich nicht vorgesehen. Eine Ausnahme bildete die Ausbildung zur Erzieherin und Volksschullehrerin:
Alle Arten von Fach- und Mittelschulen waren den Mädchen bis Ende der 1860er Jahre verboten.
Eine Gegenüberstellung biographischer Eckpunkte von Mathilde und ihrem Bruder Richard Kralik verdeutlicht die unterschiedlichen Möglichkeiten und Chancen für Mädchen und Buben.
Wie in vielen anderen bürgerlichen Häusern jener Zeit war auch bei der Familie Kralik gemeinsames Musizieren eine beliebte Freizeitbeschäftigung. Mathilde beschreibt ihren Vater als „passionierten Geigenspieler, wiewohl Autodidakt“, ihre Mutter spielte „als Dilettantin gut Klavier“. In Linz wurde Hausmusik betrieben, in Wien gab es auch musikalische Salons. Die Kinder folgten dem Beispiel der Eltern.
Obwohl das dilettierende (im Sinne von nicht professionellem, bezahlten) Musizieren für diese Gesellschaftsschicht als vorbildlich dargestellt wurde, bekam Mathilde eine gediegene Ausbildung und wurde dabei von ihrer Familie unterstützt. Den ersten Klavierunterricht erhielt sie von der Mutter, danach im Privatunterricht in Linz bei Eduard Hauptmann. In Wien wurde sie zunächst bei Carl Hertlein (Flötist bei der Wiener Hofoper) für Klavier- und Harmonielehre und nach Abschluss der Mittelschule (1875) bei Julius Epstein in Klavier und Anton Bruckner in Kontrapunkt unterrichte.
1876-1878 folgte der Besuch des Konservatoriums der Gesellschaft der Musikfreunde. Von Anfang an wurden in dieser Institution Schüler_innen beziehungsweise später Student_innen beiderlei Geschlechts aufgenommen. Mathilde Kralik studierte Komposition in der Klasse von Franz Krenn, gemeinsam mit Gustav Mahler, Rudolf Krzyzanowski, Rudolf Pichler, Katharina Haus (verh. von Escherich), Ernst Ludwig, Hans Rott und Hugo Wolf. Noch in den Festreden zum 75. und 80. Geburtstag von Mathilde Kralik wurde dieser Zeitabschnitt als Höhepunkt ihrer musikalischen Laufbahn präsentiert und ins Zentrum gerückt. Ihre Bedeutung wird dabei in erster Linie mit den Namen der „großen Meister“ erklärt, denen sie damals begegnete.
v.l.n.r.: Katharina Haus (verh. von Escherich); Gustav Mahler; Hans Rott; Hugo Wolf
Obwohl Mathilde Kralik eine professionelle Ausbildung hatte, trat sie als Komponistin nur selten öffentlich auf. Diese wenigen Gelegenheiten fanden meist in „geschützten“ Bereichen statt.
Viele Kompositionen entstanden in gemeinsamer Arbeit mit ihrem Bruder Richard: Er war der Autor mehrerer Liedtexte und der Librettist der meisten ihrer größeren Werke: aller drei Opern (Blume und Weißblume, Unter der Linde, Der heilige Gral“), eines von zwei Oratorien (Pfingstfeier), der einzigen Kantate Volkers Wacht und acht von zwölf Meloddramen.
Weitere Aufführungsmöglichkeiten ergaben sich im Rahmen einiger der neu gegründeten Frauenvereine, die um die Jahrhundertwende entstanden. Mathilde Kralik war Ehrenpräsidentin des Damenchorvereins Wien und Mitglied des Klubs der Wiener Musikerinnen. (vgl. frauen* in der musikpädagogik)
Dass Mathilde Kralik auch Mitglied und sogar im Vorstand von männerdominierten Vereinen war, ist nicht außergewöhnlich. Damen mit guten gesellschaftlichen Beziehungen übernahmen nicht selten unbezahlte Ehrenposten. Sie wird als Mitglied des Österreichischen Komponistenbundes und des Vereins der Schriftsteller und Künstler Wiens und als Ehrenpräsidentin der Wiener Bachgemeinde genannt. In letztgenannter ehrenamtlicher Funktion war sie als Nachfolgerin ihrer Studienkollegin Katharina Haus (verh. von Escherich) tätig, die diese Vereinigung mit Alexander Wunderer gegründet hatte.
Das Werk der Komponistin Kralik wurde von vielen Kritikern auf seine positiv beschriebenen männlichen (gediegen, solid, kühn….) und negativ interpretierten weiblichen (niedlich, weichlich) Eigenschaften hin untersucht.
Eduard Hanslick über ein Konzert, bei dem eine Sonate für Violine und Klavier aufgeführt wurde:
„Die Komposition des jungen Fräuleins, einer Musterschülerin des Wiener Konservatoriums, hat uns auf das angenehmste überrascht. Komponistinnen sind selten und begnügen sich meistens mit niedlicher Anfertigung kleinerer Tonstücke. Mathilde von Kralik beweist durch ihre große, viersätzige Sonate, dass sie die Sache ernster nimmt und zu bedeutenderen Leistungen berufen ist. Ein Zug von Gediegenheit, Solidität und fast männlichem Ernste geht durch dieses Stück... Der erste Satz tritt kräftig auf und entwickelt sich sehr einheitlich; das Andante gewinnt durch warme, nicht weichliche Empfindung. In beiden Sätzen stößt man auf eigentümliche Gedanken, mitunter auf kühne harmonische Wendungen. Wir halten Fräulein Kralik für ein echtes, ursprüngliches Talent, das, allerdings noch nicht ausgereift, einer schönen Zukunft entgegensieht.“ (Neue Freie Presse vom 19. April 1878)
Und der „Wiener Allgemeiner Literatur-Anzeiger“ schreibt am 8. März 1879:
„Mathilde Kralik. Sonate für Klavier und Violine (D-moll). Wien, Verlag A. Gutmann. (Dr. Th. Helm.) Die Komposition einer Schülerin des modernste Ziele verfolgenden Konservatoriums Professors Anton Bruckner. Für eine Damenarbeit auffallend knapp und gedrungen, klar, durchsichtig, ohne jedes überflüssige Wortgepränge. Die Gedanken scharf und sicher gezeichnet, besonders plastisch im Satze, dessen männlich energischer Rhythmus an einer Komponistin geradezu überrascht.“
G.v.B über das Klaviertrio (1890) (Reichspost)
„Was das neue Kammermusikwerk anbelangt, so müssen wir, sofern dies die bloße Durchsicht der Partitur ermöglicht, betonen, daß dieselbe – besonders für eine Dame – eine sehr schöne und interessante Arbeit ist.“
Heinrich Geister über das Klaviertrio (1890) (Neuen musikalischen Presse vom 8. Mai 1898)
„Es ist ein schillerndes Lob, wenn man einer Frau männlichen Geist nachrühmt, die Frauen selbst fühlen sich nicht geschmeichelt dadurch. Schliesslich ist der Geist geschlechtslos. Im Grunde ist es eine empörende Beleidigung, wenn man in Anschlag bringt, ob eine Leistung von einer Frau hervorgebracht wurde oder von einem Manne“
Rochus Kralik von Meyrswalden 2008, Artikel „Mathilde Kralik von Meyrswalden“, in: Beatrix Borchard, Hochschule für Musik und Theater Hamburg (Hg.) 2003ff, MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen (Stand vom 2.7.2008) http://mugi.hfmt-hamburg.de/Artikel/Mathilde_Kralik_von_Meyrswalden
Bildnachweis
Abb. 1: Gemälde mit Mathilde um 1880, gemalt von Anna Schmid, Quelle: http://www.kralikklassik.de/galerie.html
Abb. 2: Abb. 2: Mathilde Kralik, Quelle: http://www.kralikklassik.de/galerie.html
Abb. 3: Richard Kralik, Quelle: http://www.kralikklassik.de/galerie.html
Abb. 4: Komponistin Kitty von Escherich (1855-1916) (geb. Katherina Haus) Foto: um 1898, privater Nachlass der Familie Kralik von Meyrswalden Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Kitty-von-Escherich.jpg
Abb. 5: Gustav Mahler (1860-1911), E. Bieber [Public domain], via Wikimedia Commons Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AGustav-Mahler-Kohut.jpg
Abb. 6: Hans Rott (1858-1884), von Unbekannt [Public domain], via Wikimedia Commons Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AHans_Rott.gif
Abb. 7: Hugo Wolf (1860-1903), Postkarte1910 by Unknown Photograf [Public domain], via Wikimedia Commons Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3APostcard-1910_Hugo_Wolf.jpg
Abb. 8: Vortrags- und Konzert-Abend, Bund Österreichischer Frauenvereine
Abb. 9: Bund Österrichischer Frauenvereine, Quelle: http://www.ncwaustria.org/geschichte.html
Abb. 10: Sonate für Klavier und Violine komponiert von M. Kralik 1878, Wien, J. Gutmann, Quelle: http://www.kralikklassik.de/werkverzeichnis.htm
Abb. 11: Trio für Klavier, Violine und Cello von Mathilde von Kralik 1880, Wien und Leipzig, A. J. Gutmann, Quelle: http://www.kralikklassik.de/werkverzeichnis.htm
Anita Mayer-Hirzberger, Artikel „spielraum für reiche bürgertöchter am beispiel mathilde kralik“, in: spiel|mach|t|raum. frauen* an der mdw 1817-2017plus, hg. von Andrea Ellmeier, Birgit Huebener und Doris Ingrisch, mdw – Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, 2017ff.
URL: https://www.mdw.ac.at/spielmachtraum/artikel/spielraum-fuer-reiche-buergertoechter-am-beispiel-mathilde-kralik
| zuletzt bearbeitet: 10.01.19